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Ausschreitungen in London: Die Wut der Straße

Aus einem friedlichen Anwohnerprotest vor einer Polizeiwache im Londoner Stadtteil Tottenham wurde einer der schwersten Straßenkrawalle seit Jahren. Wie konnte es dazu kommen?

Am Sonntag standen viele Bürger von Tottenham geschockt, obdachlos und ohne Besitz vor ihren ausgebrannten Wohnungen in der High Street. „Die Gewalt eskalierte auf völlig unproportionale Weise“, betonte Polizeikommandant Adrian Hanstock währenddessen.

„Einer Gemeinde, die bereits litt, ist das Herz herausgerissen worden“, sagte der Abgeordnete des Bezirks, der Labourabgeordnete David Lammy, als Sohn von Einwanderern aus der Karibik in dem Viertel geboren. „Wir fordern Gerechtigkeit“, riefen aufgebrachte Menschen im Hintergrund, als er vor ausgebrannten Häusern seine Stellungnahme abgab. Aber er ignorierte die Zwischenrufer. „Was hier passierte ist absolut ungerechtfertigt und absolut unentschuldbar“, sagte er, spürbar wütend. Dies seien nicht die Bürger von Tottenham gewesen, sondern Außenseiter, die mit dem Viertel nichts zu tun gehabt hätten. Die Schadensbilanz ist klar. 26 Polizisten verletzt, 42 Festnahmen, Sachschaden in Millionenhöhe und zerstörte Nachbarschaftsbeziehungen in einem Viertel, das mit seiner multiethnischen Zusammensetzung schon genug Probleme hat.

Weniger klar sind die Ursachen. Um halb sechs am Abend sammelte sich beim Stadion der Tottenham Hotspur’s eine Gruppe, um nach Süden durch die High Street zum Polizeirevier zu ziehen. Es werden mehr, vielleicht 500. Zeitungen sprechen von einem „Mob“, die Polizei von einer „würdigen Mahnwache“. Die Polizeiwache wird von Polizisten in Schutzausrüstung geschützt. Ein Polizist soll eine 16-Jährige an der Absperrung geschubst haben. War das der zündende Funke? Plötzlich werden Flaschen geworfen, dann brennende Mülleimer. Ein Polizeiwagen steht in Flammen, dann ein Doppeldeckerbus. Dann wird eine McDonald’s-Filiale besetzt, Jugendliche braten sich Pommes und Burger. Das Gebäude einer Notarfirma, der Aldi-Supermarkt, die Bingo- Halle brennen, der Elektronik-Laden Comet wird geplündert. Eine Nacht der Anarchie beginnt in Tottenham.

Grund des Protests war der Tod des angeblichen Kriminellen Mark Duggan, der am Donnerstag von der Polizei erschossen wurde, als diese versuchte, ihn festzunehmen. Wie in einem solchen Fall üblich, begann sofort eine Untersuchung der Polizeiaufsicht IPCC. Duggan sei demnach Mitglied der Tottenhamer „Man Dem“-Gang gewesen, mit Verbindungen zu Yardies, der Mafia von Jamaica, heißt es. Eine Sondereinheit der Polizei für Schusswaffenbesitz und Waffengewalt war ihm auf der Spur. „Er war ein unschuldiger, viel geliebter Familienvater“, behauptet seine Familie. Die Polizei habe geschossen, nachdem Duggan auf einen Polizisten gefeuert habe und die Kugel in dessen Polizeifunkgerät stecken blieb, heißt es in den britischen Zeitungsberichten. Nach der Version, die in Tottenham die Runde macht, hatte Duggan seine Pistole fallen lassen.

Die Beziehungen der Polizei zur Kommune seien dabei eigentlich gut. „Wir arbeiten eng zusammen“, betont Kommandant Hanstock. „Es gibt hier ein kollektives Gefühl der Wut auf die Polizei“, sagen dagegen die „Sprecher“ der Schwarzen von Tottenham, die plötzlich an jeder Straßenecke in die Mikrofone sprechen.

Über allem schwebt die Erinnerung an den „Broadwater Farm Riot“ 1985. Eine Woche nach Krawallen in Brixton war bei einem Handgemenge um eine Verhaftung eine 49-jährige Frau, Cynthia Jarrett, tot umgefallen. Die Polizei bestritt, die Frau gestoßen zu haben. Aber der Tod bestätigte bei der schwarzen Bevölkerung die Überzeugung, dass die Polizei rassistische Vorurteile habe und Schwarze verfolge. Krawalle folgten, Plünderungen, sogar Schüsse auf Polizisten wurden abgegeben und am Abend wurde, in einem der grausamsten Polizistenmorde der englischen Rechtsgeschichte, ein Polizist, Keith Blakelock, mit Macheten und Messern buchstäblich zu Tode gehackt. Es gibt Parallelen zwischen beiden Fällen: Margaret Thatcher regierte, Armutsgebiete klagten über Sparmaßnahmen, Unzufriedenheit machte sich breit – dasselbe gilt unter der aktuellen Tory-Regierung. „Krawalle, Proteste, Kürzungen, Arbeitslosigkeit, unzufriedene Jugendliche, Streiks, Rezession, Polizeibrutalität“ – so lautete ein Twitter-Zitat, das gestern ausgerechnet ein Labourabgeordneter weiterverbreitete. Doch sein Parteikollege David Lammy warnte vor solchen vorschnellen Assoziationen und mahnte zur Besonnenheit: „Keiner, der sich an die zerstörerischen Konflikte der Vergangenheit erinnert, will, dass sich das wiederholt.“

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