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Panorama: BBC Legends: Depeschen aus fernem Hauptquartier

Ein Segen, dass es seit 1999 die CD-Serie BBC Legends gibt - Resultat der Öffnung jener geradezu märchenhaften BBC-Archive, die halfen, das postmoderne Bewusstsein von Interpretation radikal zu verändern. Die Angst heutiger Interpreten vor diesen Dokumenten scheint berechtigt.

Ein Segen, dass es seit 1999 die CD-Serie BBC Legends gibt - Resultat der Öffnung jener geradezu märchenhaften BBC-Archive, die halfen, das postmoderne Bewusstsein von Interpretation radikal zu verändern. Die Angst heutiger Interpreten vor diesen Dokumenten scheint berechtigt. Längst sind diese zu Monumenten geworden, zu Mahnmalen dessen, was man schier nicht mehr für möglich hält. Dazu gehören auch drei Publikationen mit Barbirolli und Mahler.

Man ist, wenn man Barbirollis MahlerAbenteuer am eigenen Leibe erlebt hat, gezeichnet. Vieles kann die Welt heute an behänder und beredter Mahler-Realisation aufbieten: Diese mag noch so fotographisch genau die Partituren wiedergeben wie im Falle Pierre Boulez (etwa am Beispiel der Sechsten und Siebten) - sie erreicht kaum je einen echten Offenbarungswert. Und um Offenbarung geht es nun einmal in Mahlers Musik. Wer diese quasi religiöse Dimension für überholt hält, weil der Mensch keiner Transzendenz mehr bedürfe und keiner Utopien, darf diese Musik getrost aus seinem Bewusstsein streichen.

Wie es dem Himmel auf Erden ergeht

Sir John Barbirolli ist seit über dreißig Jahren tot. Die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens stellte er massiv in den Dienst Gustav Mahlers - nachdem er diesen Komponisten zuvor eher experimentierend gemieden hatte. Barbirolli brauchte diese Zeit, ehe er das Mahlersche Pathos und dessen Brechung im Grotesken vermitteln konnte, bis er den Kompositionsvorgang und die Art der Weltverarbeitung als Strukturen zu erfassen, als Signale zu verstehen und den Musikern zu übersetzen wusste. Mit peniblen Vorbereitungsphasen für jede Symphonie hat Sir John sich auf diesen Stand gebracht, um dann das Werk in actu entstehen zu lassen. Das wiederum war ihm nur live möglich und mit Publikum.

Von all dem zeugen die drei Live-Aufnahmen der BBC Legends: die Dritte und die Siebte aus Manchester mit dem Hallé-Orchestra, das er 27 Jahre lang leitete und zu Weltruhm führte, die Vierte mit dem BBC Symphony Orchestra auf Tournee in Prag. Unerhört, wie Sir John (und darin vielleicht nur Bruno Walter ähnlich) das Live-Ereignis auch ins Studio zu transportieren wusste - durch die Gewalt seiner Persönlichkeit, von der man buchstäblich angesteckt wurde: nicht nur emotional, sondern auch spirituell, nie distanzlos, immer voller Humor.

Barbirolli näherte sich Mahler vom Ende her. Seine erste grosse Mahler-Phase lässt ihn ganz mit der Neunten leben - bis er diese Mitte der 60er Jahre triumphal nach Berlin bringt und die Philharmoniker samt ihrer Stadt in einen wahren Mahler-Taumel versetzt. Von da aus und damit wird Sir John auch in Deutschland zum Liebling, zum spirituellen Medium, das die Herzen aller Hörer bezwingt.

Wie es dem Himmel auf Erden geht - das ist Barbirollis, das ist überhaupt Mahlers Thema. Um nichts anderes geht es. Seine Symphonien sind sozusagen die Pathographien eines ersterbenden Himmels, das Zertrümmern des Echos, das Zerbersten der Signale - die dann von dort wiederkommen, hier aber verloren sind. "Depeschen aus fernem Hauptquartier", hat Ernst Bloch einst dazu gesagt. Und auch Adorno hat recht, wenn er in seinem Mahler-Buch die Rondo-Burleske der Neunten mit der Sprachlandschaft Kafkas in eins setzt, demonstriert am Begriff der Verzweiflung.

Beinahe der ganze Mahler ist unter Sir John auf einzelnen CD-Editionen zu hören: Die Erste mit Hallé (aus Manchester 1957, auf dem Label der Barbirolli-Society, ediert von Cedar) - nach Walter wohl die überzeugendste Leistung, wenn wir Maazels bestürzend raffinierte abziehen. Die Zweite schlummert in den Archiven - eine sogar beim früheren Süddeutschen Rundfunk Stuttgart (von einer Konzertaufführung Mitte der 60er Jahre). Die Dritte, wie gesagt, als BBC Legend aus Manchester von 1969. Hier hat sich erstmals ereignet, dass ein Dirigent den Kopfsatz, dieses Monstrum an Genialität, zwingend zu vermitteln wusste, indem er den zerberstenden Sonatensatz sozusagen auf den Kopf stellte; dazu ein Finale, das alles Sentiment gibt, mit gewagtesten Portamenti, wie sonst nur Willem Mengelberg sie riskierte (dessen Live-Aufnahme der Vierten gewiss unschlagbar ist). Auch Barbirollis Vierte - jener Mitschnitt aus Prag von 1967 - erweist sich als Rubato-Meisterstück von atmosphärischer Dichte. Das gleichsam ins Werk eingeschweißte Idyll erfährt massivste Bedrohungen. Barbirolli lässt einen ganzen Kinderglauben, eine schöne heile Welt zusammenstürzen - und zieht uns doch mit letzter Kraft noch aus dem Sumpf. Ein Grenzlauf im Umgang mit dem Sentiment - und Abschied von der Wunderhorn-Welt.

Barbirollis Studio-Aufnahme der Fünften ist mit dem New Philharmonia auf EMI heute überall billigst zu haben. Allein die Gewalt des manischen Trauermarschs, der einem hier ins Gemüt geblasen wird, bleibt in seiner Rigorosität haften; obendrein klingt das Ganze auch noch wunderbar. Und dann, ebenfalls mit dem Philharmonia im Studio, die Sechste, das Opus summum. Barbirolli zeigt, dass die Gefühlsinhalte hinter Mahlers stigmatischen Signalen alle "in uns" sind. Einen bewegenderen Abschied vom Glück kann man kaum erleben als im Andante der Symphonie, dem Satz aller Sätze: Unvergesslich, wie Barbirolli hier den Einsatz für den Ur-Ton der Herdenglocken gibt.

Wie uns das Glück davonläuft

Auf eben diesem Niveau und wieder aus Manchester: Die Siebte mit dem Hallé, das weniger abgefeimt virtuos als vielmehr ergriffen spielt. Das Werk galt lang als schwach, als monströses Konglomerat. Sir John gehört neben den Analytikern Scherchen und Rosbaud zu seinen Propheten. Werden die beiden Nachtmusiken jemals wieder so in unsere Organismen eingreifen können wie durch Barbirolli? Und wer vermag das Absurde dieser Stimmungen zu erfassen, die Vernichtung des Idylls wiederum ganz aus sich selbst heraus? Der für platt und unspielbar gehaltene Finalsatz gelingt Barbirolli mit geradezu gefährlicher Eleganz - weil er die Tradition, auf die angespielt wird, weil er die Umschläge ins Triviale so überaus geistvoll wirksam macht. Barbirolli zeigt mit diesen Wechseln, auf welch schmalem Grad das Glück lebt - und wie es uns davonläuft in diesem irren Rondo.

Die Achte hat Sir John nie angerührt. Er hätte wohl diesen Schritt noch gemacht; denn er kam, wie gesagt, von der Neunten her. Wer es erlebt hat, weiß es bis heute: Barbirollis Mahler war der Prophet, der plötzlich verstanden wird: "Das sind doch wir!" - so irrte man nach dem legendären Philharmoniker-Konzert durch Westberlins Straßen. Sir John hatte einen angezündet mit seinem himmlischen Feuer.

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