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Bergung der Costa Concordia: Der längste Tag von Giglio

Und sie bewegt sich doch. Bis Mittag sind die ersten paar Grad geschafft. Langsam, sehr langsam dreht sich die Costa Concordia in die aufrechte Lage. Es ist die größte Bergungsaktion eines Schiffes in der Geschichte. Und ein Geduldspiel.

Er ist gut aufgelegt. „Unser Unternehmen steht unter den allerbesten Vorzeichen“, sagt Italiens oberster Zivilschützer, Franco Gabrielli. Er war früher einmal Polizist. Und so euphorisch, wie ausgerechnet zum Anfang der großen Schiffsbergung, äußert er sich normalerweise nicht.Aber es gilt eben gerade zu Beginn einer solchen Unternehmung die Signale zu deuten. „Unserem führenden Ingenieur“, fährt Gabrielli auf der Insel Giglio fort, „ist gestern ein Enkel geboren worden! Und noch besser: Morgen kommt gleich der zweite!“ Sergio Girotto, der Ingenieur und jetzt auch Großvater, errötet hinter seinem weißen Vollbart. Zwei Kinder, von zwei Töchtern. Später wird er sagen, dass man das „allerbeste Vorzeichen“ auch anders deuten kann. Er sei Vater von Zwillingstöchtern. Die sollten und wollten am selben Tag niederkommen. Sehr schön geplant das alles, aber eben nicht präzise genug. Und das ist der Rahmen, in dem – technisch so kompliziert, so risikoträchtig und so aufwändig wie nie zuvor in der Seefahrtsgeschichte – die Costa Concordia gehoben werden soll.

In der Nacht zum Montag tobt über Giglio stundenlang ein fürchterliches Gewitter. Zwar ist der Himmel um fünf Uhr morgens so klar wie vorhergesagt, aber die Bergungstrupps müssen erst mal aufräumen. Um sechs Uhr, ziemlich genau zum Sonnenaufgang, wollten sie die riesigen Hydraulikheber in Bewegung setzen, um das knapp 300 Meter lange Albtraumschiff aus 65 Grad Schräglage in die Vertikale zu drehen, aber unter den nächtlichen Blitzen haben sie den Ponton mit der Kommandozentrale nicht installieren können. Die beiden „Nabelschnüre“ fehlen, die den „Control Room“, die Computerzentrale in ihrem roten Frachtcontainer, mit der Technik auf dem Wrack verbinden sollen.

Um drei Stunden verzögert sich der Einsatzbefehl – aber während unter den mehreren hundert Anwesenden aus aller Welt die Angst vor einem möglicherweise tagelangen, leeren Warten auf der kleinen Insel umgeht, wächst unter den Technikern die Entschlossenheit. Zwanzig Monate haben sie auf diesen Punkt hingearbeitet. Jetzt wollen sie da durch. Genau an diesem Montag.

Je wärmer es wird an diesem Vormittag, umso mehr Menschen sitzen vor den Bars am Hafen von Giglio, auf den Steinmäuerchen mit allerbestem Wrack-Blick. Alle tragen einen orangefarbenen Ausweis, dass sie das dürfen. „Einwohner“, steht darauf. Denn heute haben nur sie, die Bergungsbeteiligten, die Sicherheitskräfte und Journalisten Zutritt zur Insel. Der Fährverkehr mit dem toskanischen Festland ruht.

Vor den Journalisten laufen die Einheimischen lieber davon; jeder ist schon mindestens zehnmal interviewt worden – aber die, die bleiben, die freuen sich. „Gut geht’s uns“, strahlt Samantha Brizzi, die Immobilienmaklerin und frühere Tourismus-Chefin der Insel: „Das Wrack kommt endlich weg.“ Und eine ältere Frau, die vor ihrem Krimskrams-Geschäft sitzt, hofft das zumindest auch: „Es ist gut so, auch wenn’s mir heute hier so vorkommt wie im Krieg: Belagerungszustand, so viele Polizisten da, und dauernd der Hubschrauberlärm.“

Der Held des Tages ist nicht zu sehen. Der 52-jährige Südafrikaner Nick Sloane, der seine Karriere in der weltweiten Schiffsbergung nun mit der Costa Concordia krönt, er hat sich mit elf Spitzentechnikern in den beigefarbenen Containern seiner Kommandozentrale eingeschlossen, die unmittelbar vor dem Bug des Wracks schwimmt. Von hier aus – koordiniert von einer deutschen Ingenieurin – wird alles kontrolliert: die tonnenschweren Ketten, die das Wrack am Abrutschen in tiefe Gewässer hindern, und die dutzenden von Stahllitzen, an denen die Hydraulikheber mit einer Zugkraft von bis zu 23 800 Tonnen anpacken. Vielleicht reicht ja auch die Hälfte, sagen die Techniker, aber im Voraus haben sie das nicht ermitteln können, und sicher ist sicher. Ein bis zwei Stunden, haben sie vermutet, würden sie brauchen, um die Costa Concordia möglichst ohne Ruck von jenen zwei Granitspornen loszureißen, die in ihrer rechten Flanke stecken. Am Ende dauert diese heikelste Phase der Bergung drei Stunden. Erst um zwölf Uhr mittags haben Nick Sloane und die Seinen die Gewissheit, dass das Schiff den seitlichen Zug als Ganzes mitmacht und nicht der Länge nach auseinanderbricht. Für Bergungstrupps und Umwelt wäre das die Katastrophe.

Etwa um diese Zeit – da sind von den 65 Grad Drehung gerade einmal drei Grad geschafft – sehen die Beobachter tatsächlich eine Bewegung: Da tauchen zuerst die im Salzwasser blind gewordenen Fenster von Francesco Schettinos Kommandobrücke auf, dann gähnen plötzlich ganze Fenster- und Türhöhlen, finster, leer, von Tang verhangen, in die volle Herbstsonne. Es tritt an der unendlich langsam auftauchenden Steuerbordflanke und an der Spaßbad-Landschaft auf dem Oberdeck von einst unverhüllt die blanke Zerstörung zu Tage.

32 Tote hat es an jenem 13. Januar 2012 gegeben, dem Tag der Havarie. Zwei Leichen – die eines indischen Kellners und jene einer sizilianischen Touristin – sind nicht gefunden worden. Haben sie unter dem Schiff gelegen?, fragen Journalisten bei der mittäglichen Pressekonferenz. Sind sie jetzt vielleicht, bei den Bergungsarbeiten, aufgetrieben? Zivilschutz-Chef Gabrielli antwortet, man vermute sie eher im Inneren des Wracks, aber gesucht werde – „zum Schutz von Menschenleben“ erst, wenn die Costa Concordia sicher auf ihren Stahlplattformen und auf dem flankierenden Zementbett vertäut sei.

Langsam geht es voran, langsamer als gedacht – auch wenn die Hydraulikzylinder ohne Pause weiter an den Stahlseilen ziehen. Nach zehn Stunden immerhin kriegen sie Hilfe. Dann sind 20 von 65 Grad geschafft, da tauchen die elf Stahlcontainer ins Wasser ein, die an die Backbordflanke der Costa Concordia geschweißt sind. Mächtig und hoch sind sie wie Wohnhäuser von sieben und elf Stockwerken. Um auf der steilen Außenhaut des Wracks überhaupt arbeiten zu können, haben die Schweißer Klettern und Anseilen bei einer Spezialfirma aus den Alpen gelernt. Jetzt saugen die Container, von Sloanes Leuten dosiert, Meerwasser an. Sie werden immer schwerer, und ihr Gewicht drückt die Backbordseite der Concordia hinab, genau um den Winkelbetrag, der zur Vertikalen noch fehlt. Diese sollte dann erst um Mitternacht erreicht werden. „Gut, wir haben anfangs von zehn oder zwölf Stunden gesprochen“, sagt der Costa-Vertreter Franco Porcellacchia, und aus dem Journalistenzelt schlägt ihm eine Welle von Enttäuschung entgegen, „jetzt sind wir extrem langsam, aber uns geht die Sicherheit vor, und auch wenn wir 15 oder 18 Stunden brauchen – Hauptsache, wir machen es gut.“ Applaus aus der Gruppe von Giglio-Einwohnern, die sich in die Pressekonferenz schmuggeln konnte.

Eine „pretty simple technique“ sei das alles, ein „hübsch einfaches Verfahren“, hat Nick Sloane in den Tagen vor der Bergung gesagt.

Eine Menge Arbeit ist es trotzdem: Bewegt werden müssen nicht nur 60 000 Tonnen Stahl, sondern auch 263 000 Kubikmeter Wasser, die noch immer den Schiffsrumpf füllen. „Acqua nera“, schwarzes Wasser, nennen sie das im Italienischen. Weil es verseucht ist von den Resten alles dessen, was die Costa Concordia damals zur Verpflegung von 3216 Passagieren und 1013 Besatzungsmitgliedern mitführte: allein 8200 Kilogramm Rindfleisch, 11 300 Kilogramm Fisch, ebenso viel Pasta, an die 7000 Liter Speiseeis und vieles, vieles mehr. Immerhin: Den Treibstoff, 2043 Kubikmeter, haben sie schon in den ersten acht Wochen nach der Havarie bis auf einige von außen unerreichbare Restmengen abgepumpt. Die größte Umweltgefahr war schon vor der Bergung gebannt – und trotzdem: Die doppelte, teils dreifache schwimmende Barriere zeugt von der Angst davor, was aus dem Schiff noch alles auslaufen könnte.

Mächtig stinken würde es, haben Experten vorab gewarnt. Nach Fäulnisgasen, nach Schwefelwasserstoff. Aber als vor den Fernsehkameras ein Meeresbiologe der römischen Universität Sapienza auftritt, da sich die Anspannung gelöst: „Selbst wenn Schwefelwasserstoff austritt“, sagt der Mann: „Der Wind weht heute aufs Meer hinaus, das Zeug verteilt sich dann schon.“

Von dem vierstöckigen, schwimmenden Containerhotel, auf dem sie die Monate der Vorbereitung gewohnt haben, schauen Arbeiter und Taucher der Hebung des Schiffs stundenlang zu. Jetzt haben sie frei. Den Rest erledigen die Maschinen. Und zwischen den Fernsehkameras auf der Hafenmole bewegen sich fröhlich einige Techniker des italienisch-amerikanischen Bergungskonsortiums. An keinen von ihnen ist man in den vergangenen Monaten herangekommen, keiner durfte reden. Jetzt, nach 20 Monaten Arbeit rund um die Uhr, platzt es aus ihnen heraus. „Das haben wir mitgebaut“, sagen sie stolz und zeigen auf die gut 30 Meter hohen Gittertürme, die aussehen wie Einrichtungen einer Raffinerie, und an denen die Stahllitzen und die landseitigen Hydraulikheber zur Aufrichtung der Costa Concordia verankert sind. Von einer „exzellenten Arbeitsorganisation“ erzählen sie: „Da hat einfach alles geklappt. Da waren nur Spitzenkräfte am Werk. Und auch wenn wir aus 26 verschiedenen Ländern kamen – wir haben uns über die Technik verstanden. Eine technische Zeichnung lesen kann man auch, ohne die Sprache des anderen zu sprechen.“

Dass die Operation gelingen wird, daran haben Ingenieure wie Girotto am späten Montag Nachmittag keine Zweifel. Aber sie wollen nicht zu früh jubeln: „Es kann auch im letzten Moment noch was passieren.“ Wenn alles gut geht, dann gibt es zuerst mal einen Tag, vielleicht zwei, Pause, dann schauen sich die Experten die rechte Flanke des Schiffs an, die aufgerissene. Wie will man da, fragt Chefingenieur Girotto, die Stahlcontainer anbringen, die nötig sind, um das Schiff aufschwimmen zu lassen und abtransportieren zu können? Im Frühjahr soll auch diese, die für Giglio letzte Phase abgeschlossen sein. Aber wie?

Erschienen auf der Dritten Seite.

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