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Es sieht ein wenig aus wie bei einer Mondlandung. Jorge Galleguillos kommt als Zehnter wieder ans Tageslicht.

© AFP

Bergwerksunglück: Chronologie einer Rettung

Um Mitternacht südamerikanischer Zeit hat die Rettung der 33 Männer, die seit 69 Tagen tief unter der Erde gefangen waren, begonnen. Und aus der anfänglichen Sorge, ob alles gut gehen werde, keimte schnell eine Hoffnung und vielleicht sogar etwas Ähnliches wie eine Gewissheit. Eine Chronologie.

Was sind 14 Minuten? Was sind 69 Tage? Ist je ein Wunder so ausgeleuchtet worden wie das von Chile? Sogar die Fahrt durch die Röhre wurde gefilmt. Graues Gestein, das vorbeirauscht. Ein gelbes Käfigdach. Es war eine 14-minütige Reise, nach der die Bergleute wieder draußen waren, ihr Verlies verlassen hatten, zurück waren an der Erdoberfläche, in der Welt.

05.01 Uhr MESZ. Der Grubenarbeiter Florencio Avalos, 31, besteigt als Erster die Kapsel und wird darin nach oben gezogen. Die Kapsel hat einen Durchmesser von 53 Zentimetern. Dass ein Mann es darin durch die Röhre schaffen kann, wissen die Eingesperrten, denn erst kam der erste von drei Rettern zu ihnen nach unten. Er gab nach oben weiter, dass die Freude der Männer unbeschreibbar gewesen sei. Als die Kapsel sich der Erdoberfläche nähert, jubeln die Menschen, die dort warten.
Avalos wird aus der Kapsel befreit.
Mehr als drei Jahre arbeitete er schon in der Mine San Jose, seinem Bruder Renan und seinem Schwager Osman Araya verschaffte er den Job in der Mine – beide waren mit ihm 69 Tage eingeschlossen. Zu Hause hatte er ständig davon gesprochen, dass das Bergwerk gefährlich war, dass es ständig irgendwo krachte. Weil er nicht wusste, wo er sonst arbeiten sollte, blieb er. Vier Monate lang war er vor dem Unglück wegen Bluthochdruck krank geschrieben, gerade zwei Wochen hatte er wieder gearbeitet, als es passierte.
Schon kurze Zeit nach seiner Rettung soll es eine Ahnung davon geben, wie es ist, wenn das Medieninteresse in Gier umschlägt. Als Vater Alfonso Avalos mit tränenüberströmtem Gesicht erzählt, wie glücklich er sei, rennen
Reporter wie wild auf die Familie zu, trampeln ihr Zelt nieder, reißen sich gegenseitig an den Haaren, fangen schier an, sich zu prügeln, um kein Wort zu verpassen. Verstört ziehen sich Avalos’ Angehörige zurück, Mutter Maria Silva schlägt mit einer chilenischen Fahne nach Reportern.

06.10 Uhr MESZ. Mario Sepulveda, 39, kommt an die Oberfläche. Er wird aus der Kapsel befreit, reißt die Arme hoch und jubelt. Dann umarmt er die Frau und seine zwei Kinder, und dann hat er die Nerven für einen Gag. Er verteilt
Gesteinsbröckchen von unten an die Einsatzkräfte und auch an Staatschef Sebastian Pinera, der die nächsten Stunden im kargen, trockenen Norden seines Landes jeden Geretteten umarmen wird.
„Es lebe Chile, Scheiße!“, schreit Sepulveda und bringt das ganze Lager zum Singen: Chi-Chi-Chi-le-le-le. Dann hält er in die Kamera des Staatsfernsehens eine
Rede: „Ich war hin- und hergerissen zwischen Gott und dem Teufel. Doch dann ergriff ich Gottes Hand. Ich wusste immer, Gott würde uns hier rausholen.“ Und während die Kumpel als Helden gefeiert werden, bittet Sepulveda um ein kleines bisschen Normalität. „Bitte behandelt uns nicht wie Künstler, behandelt mich wie einen Bergarbeiter“, sagt er.
Er wolle im Bergbau bleiben, nur müssten sich die Arbeitsbedingungen ändern.
Ein gelbes Brückengestell, ein großes weißes Rad mit zwölf Speichen, eine der zwei Winden, über die das Drahtseil läuft, das dann in dem Loch im Boden verschwindet. Ein Loch, das eine Röhre ist, eine 622 Meter lange Röhre. Und am Ende des Seils hängt die Kapsel. Rauf und runter läuft das Seil, immer wieder, im gleichmäßigen und mäßigen Tempo. Läuft das Kabel rauf, heißt es, gleich wird der nächste Mann gerettet sein. Läuft es runter, heißt es dasselbe. Es ist ein ruhiges Bild, ein beruhigendes. Solange das Seil läuft, ist alles in Ordnung.

07.01 Uhr MESZ. Der dritte Kumpel ist heil an der Oberfläche angekommen. Juan Illanes, 51
. Wie die Fahrt war? „Wie eine Vergnügungstour!“

08.08 Uhr MESZ. Der Bolivianer ist oben, Carlos Mamani. Als er aus der Rettungskapsel steigt, flattern ihm dutzende rot-gelb-grüne Fähnchen zu. Auch Boliviens Präsident Evo Morales ist da, um ihn zu begrüßen, und auch der chilenische Präsident wedelt mit einem bolivianischen Fähnchen, was keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist, die beiden Länder sind traditionell miteinander verzankt, die Chilenen blicken auf den Nachbarn im Nordosten herab. Seit dem
Salpeterkrieg geht das so, seit 1884. Damals hatte Bolivien seinen Meerzugang an Chile verloren. Noch im Jahr 2000 haben chilenische Fans bei einem WM-Qualifikationsspiel in La Paz spöttisch „Vamos a la playa“ („Lasst uns zum Strand gehen“) gesungen und damit die Gastgeber so gereizt, dass am Ende die Polizei eingreifen musste. Das soll nun vergessen werden.

Die bolivianische Zeitung „Los Tiempos“ feierte am Mittwoch die chilenische Ingenieurskunst. Die Rettung Mamanis sei das Symbol einer neuen Einheit zwischen beiden Ländern. Und Präsident Evo Morales versprach dem Geretteten ein Haus und eine Arbeit in seinem Heimatland. Doch Mamanis Frau Veronica Quispe ist Chilenin und nicht sicher, ob sie das Angebot annehmen will. Ein anderer Held der Rettungsaktion war zuvor verabschiedet worden: der Bohrer Schramm T-130, der den Rettungsschacht gegraben hatte. Unter den Dankesrufen der Angehörigen wurde die Maschine weggefahren. Der T-130 hatte Anfang September als zweiter Bohrer in San Jose seine Arbeit aufgenommen, war aber dann als erster zu den Verschütteten vorgestoßen. Der Bohrer habe den Zeitraum bis zur Rettung der Kumpel um zwei Monate verkürzt. Ursprünglich war mit der Rettung erst um Weihnachten gerechnet worden.

09.13 Uhr MESZ. Der Jüngste der Gruppe, der 19-jährige Jimmy Sanchez, wird als Fünfter gerettet. Eine Hochzeit steht an: Sanchez hatte seiner Freundin versprochen, sie zu heiraten, wenn er gerettet würde. Die beiden haben schon eine kleine Tochter.

Es ist bitterkalt in der Atacama-Wüste. Sechs Grad nur um 9 Uhr. Die Männer vom Rettungstrupp sind in wattierte Jacken gepackt, in orange leuchtender Signalfarbe. Bunte Punkte sind sie vor dem ewigen Graubraun der Wüste.

10.34 Uhr MESZ. Osman Araya, um die 30 Jahre alt, hatte erst seit vier Monaten in der Mine gearbeitet, als das Unglück geschah. Er war während der mehr als zwei Monate in der Tiefe zusammengebrochen. Als er oben ankommt, bricht er in Tränen aus.

Papst Benedikt XVI. betet für einen guten Verlauf der Rettungsaktion der eingeschlossenen Minenarbeiter in Chile. Er empfehle die in der Atacama-Region verschütteten Bergleute mit Hoffnung der Güte Gottes, sagte das Kirchenoberhaupt am Mittwoch bei seiner Generalaudienz auf dem Petersplatz. Benedikt XVI. richtete sich mit diesen Worten auf Spanisch unmittelbar an Pilger aus Spanien und mehreren Ländern Lateinamerikas. Und der chilenische Präsident Pinera verspricht im Angesicht der Retter und der Geretteten, dass dieser Stollen und viele andere auch den Betrieb erst wieder aufnehmen dürften, wenn alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen sind. „Und nicht nur die Minen, sondern auch das Baugewerbe, die Fischerei, die Industrie und der Transport müssen diese Auflagen erfüllen“, sagt Pinera. Ursache für das Unglück waren mangelnde Sicherheitsmaßnahmen, nicht vorhandene Evakuierungsleitern und die schlampige Aufsicht durch die Minenbehörde.

11.21 Uhr MESZ. Jose Ojeda ist frei. Der Diabetiker hatte die erste Überlebensbotschaft aus der Tiefe geschrieben. Da saßen die Bergarbeiter bereits seit 17 Tagen in der verschütteten Mine fest, und die Experten hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben, sie noch lebend vorzufinden.

Aus dem Innern der Mine strahlte eine kleine Kamera Bilder aus, wie die Männer unter der Erde in kurzen Hosen und ohne Shirts sich auf die Auffahrt vorbereiteten und jede Ankunft der Kapsel mit Applaus quittierten. Im Stollen herrschen Temperaturen von um die 30 Grad und eine fast 100-prozentige Luftfeuchtigkeit. Zur Auffahrt mussten sie sich in einen Spezialanzug zwängen, der die großen Temperaturunterschiede ausgleicht, und eine Sonnenbrille aufsetzen.

12.02 Uhr MESZ. Der achte Mann ist gerettet – und damit steht eine zweite Hochzeit an: Auch Claudio Yanez hatte seiner Freundin versprochen, sie nach der Rettung zu heiraten. Der Mittdreißiger hatte erst seit rund acht Monaten in der Mine gearbeitet.

Nach jeweils acht der etwa 45 Minuten dauernden Reisen wird die Kapsel kurz angehalten, um die Räder auszuwechseln und zu ölen.

12.59 Uhr MESZ. Mario Gomez ist mit rund 60 Jahren der Älteste der Gruppe. Seit seinem zwölften Lebensjahr arbeitet er im Bergbau. Zuerst dankt er Gott, er fällt auf die Knie und bekreuzigt sich. Dann schwenkt er eine chilenische Fahne, die er mit sich in der Kapsel nach oben befördert hatte.

Der 63-Jährige gilt als Mentor der Verschütteten, seine besonnene Art und seine Erfahrung als Bergmann trugen in den Wochen viel zu ihrer Moral bei. Seine Frau hat erzählt, er sei schweigsam und schüchtern, zeige nur ungern Gefühle. Deshalb habe sie sein erster Brief aus der Tiefe ganz aus der Fassung gebracht: Darin schrieb er, dass er sie liebt. „So etwas hat er mir noch nie gesagt, nicht einmal während unserer Verlobung war er so romantisch“, erzählte sie danach, immer noch überwältigt.

Nach der Untersuchung durch den Arzt wurden die Geretteten kurz in einem Container in Ruhe von ihren Angehörigen empfangen, bevor sie in kleinen Gruppen mit einem Hubschrauber zu einem Gesundheitscheck ins nahe gelegene Hospital von Copiapo geflogen wurden.

13.54 Uhr MESZ. Alex Vega Salazar wird aus der Kapsel befreit. Er hat unten seinen 32. Geburtstag gefeiert. „Was willst du zum Frühstück?“, ist die erste Frage, die er hört. Seine Ehefrau ist da. Sie trägt eine dunkle dicke Jacke und einen weißen Helm auf den langen schwarzen Locken. Während ihr Mann aus der Kapsel befreit wird, nähert sie sich. Die Rettungsleute klatschen, da guckt er hoch. Er kaut Kaugummi und sieht mit seiner Sonnenbrille aus wie einer, der aus dem Flughafen ins Freie tritt.

14.12 Uhr MESZ. Die Kapsel ist wieder unten. Die elfte Rettung steht an. Jorge Galleguillos steigt ein. Bis die Kapsel sich wieder in Bewegung setzt, vergehen fünf Minuten. Nach 14 Minuten Fahrt ist er dann auch oben. Und fällt seinem Bruder, der die vergangenen 69 Tage im Camp ausgeharrt hat, schluchzend um den Hals.

15.11 Uhr MESZ. Edison Pena ging aus Liebe in die Mine, eigentlich ist er Elektriker in Santiago. Weil er bei seiner Freundin Angelica Alvarez sein wollte, die in Copiapo arbeitet, nahm er den Job unter Tage an. Bei der ersten Videoaufnahme zeigte er sich als Einziger deprimiert, sagte, er wolle sofort raus. Später erholte er sich und begann zu joggen. Fast zehn Kilometer soll er täglich durch die Gänge der Mine gelaufen sein.

Dieser Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung ist zu verdanken, dass die Bergleute vor allem während der ersten 17 Tage, als sie noch keinen Kontakt zur Außenwelt hatten, nicht durchgedreht sind. Claudio Ibanez, der als zweiter Psychologe zum Rettungsteam gehört, sagte, man habe

keine Therapiestunden mit den Männern abgehalten. Sie hätten sich gut organisiert, seien über

sich selbst hinausgewachsen. „Sie mussten zusammenhalten, um zu überleben.“ Und sie haben die Hierarchie aus der Schicht beibehalten, der Chef blieb während der ganzen Zeit die höchste Autorität. Und so soll der Chef, Luis Urzua, in dieser Konsequenz auch als Letzter erst gerettet werden.

16.11 Uhr MESZ. Pinera und Morales geben eine Pressekonferenz. Der Chilene im knallroten Blouson spricht von Wiedergeburt. Der Bolivianer trägt einen Sicherheitshelm. Die Sonne wirft einen großen Schatten auf sein Gesicht.

16.40 Uhr MESZ. Das Seil fährt zurück in den Schacht. Die Rettung der letzten 18 Bergmänner steht bevor.

– zusammengestellt von Veronica Frenzel und Sandra Weiss, mit dpa

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