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Biografie-Wettbewerb: Die Suche nach dem Superleben

Ein bundesweiter Biografie-Wettbewerb ist gerade zu Ende gegangen, eine Jury wählte aus 221 Bewerbungen drei erste Plätze aus. Aber wie geht denn das überhaupt? Von der anmaßenden Idee, Lebensläufe auf Hitlisten zu platzieren.

Das Leben des Jahres begann in einer Märznacht 1942, mit Steißlage. Mit einer komplikationsreichen, langwierigen Geburt also, was es mit sich brachte, dass niemand der damals Anwesenden im entscheidenden Moment einen Blick auf die Uhr werfen konnte, so dass wiederum bis heute Unklarheit über das Datum herrscht. Vor Mitternacht oder danach? Der 30. März oder der 31.?

Es ist das Leben von Susanne Huber. Diesjährige Siegerin in der Kategorie Persönlichkeit des bundesweit ausgetragenen Biografie-Wettbewerbs „Was für ein Leben!“. Ausgewählt aus fast 100 Bewerbungen, ausgezeichnet mit einem Blumenstrauß und der Hauptrolle in einem 35 Minuten langen Dokumentarfilm, der dieses Leben auf einen Nenner zu bringen versucht.

Sie steht da, vor der Leinwand des Kinos im Deutschen Historischen Museum in Berlin, mit den Blumen in der Hand, es ist der vergangene Sonntag. Der Film ist aus, sie hat ihn in seiner endgültigen Fassung gerade zum ersten Mal gesehen. Sie sagt „Ich war eine Zumutung für meine Mitbürger“ in ein Mikrofon, und es gibt Applaus.

Ein Wettbewerb, der das beste Leben sucht. Der Menschen aus dem ganzen Land dazu einlädt und die Anmaßung besitzt, tatsächlich eine Auswahl zu treffen, der eine Rangliste und schließlich eine Siegerbiografie benennt. Ein Leben, das alle anderen überragt, ein Superleben, das die anderen zwangsläufig und zumindest ein wenig entwertet, von dem jedoch die, die es lebt, sagt, es bestehe aus einer Zumutung für ihre Umgebung. Was ist da denn bloß passiert?

Die Suche nach dem Superleben begann vor vier Jahren im Büro einer Berliner Filmproduktionsfirma. Zwei Frauen, die beiden Fernsehjournalistinnen Angelika Brötzmann und Evelyn Filipp, hatten sie ein paar Jahre zuvor gegründet. Sie hatten sich auf Filmbiografien spezialisiert. Jeder, der will, kann einen Dokumentarfilm über sich bei ihnen in Auftrag geben, Mindestkosten 3000 Euro. Ärzte kamen, Anwälte, das Großbürgertum. Die Ärzte und Anwälte hörten den Satz, dass mit 3000 Euro in der Tat ein Film zu machen sei, dass damit aber niemand glücklich würde. Filme, mit denen man glücklich würde, kosteten ein Mehrfaches. Manche der Ärzte und Anwälte erschraken dann, manche nicht, die Firma lief jedenfalls, und Brötzmann und Filipp wissen nicht mehr genau, ab wann sich so eine Art Überdruss bei ihnen einstellte, immer im selben Milieu zu arbeiten. Irgendwann kamen sie auf die Idee mit dem Wettbewerb.

„Wir haben nach einem Akquisemittel gesucht“, sagt Brötzmann, „kann man ganz ehrlich sagen.“ Sie sagt das im November 2010 in ihrem Büro, die damalige Wettbewerbssaison war gerade zu Ende gegangen, die Arbeit an der diesjährigen lag noch vor ihr. Sie spricht über ihre Zeit beim Fernsehen, über die Traurigkeit darüber, die sich am Ende bei ihr einstellte. Brötzmann, Jahrgang 1961, hat vor allem Magazinbeiträge gemacht. „Am Anfang, da hat man noch einen Erkenntnisgewinn und ein Sendungsbewusstsein“ sagt sie. „Das lässt aber nach. Man merkt, man kann in fünf Minuten wenig erzählen. Man erfährt wenig.“

Ganz am Schluss ihrer Fernsehzeit machte sie Prominentenberichte. Rote Teppiche. Ihr Ehrgeiz damals habe vor allem darin bestanden, an etwas heranzukommen, was man beim Fernsehen O-Töne nennt. O-Töne, die sonst keiner hat. Sie hat es einmal geschafft, Brad Pitt nach einer Pressekonferenz im Alten Museum zu stellen, weil sie nicht wie die anderen Kollegen am Haupteingang, auf der Freitreppe, auf ihn wartete, sondern sich auf Verdacht an eine Hintertür stellte. Und, was hat er gesagt? „Das weiß ich nicht mehr“, sagt Brötzmann, „darum geht es da ja nicht. Das ist es ja.“ Mit der Filmbiografiefirma ist sie jetzt deutlich näher an ihrer Vorstellung von einem erfüllten Berufsleben. Sie sagt: „Meine Lieblingsvorstellung wäre, man würde bezahlt kriegen, dass man unendlich viele Lebensgeschichten verfilmen kann.“

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Ein paar Wochen später, dasselbe Büro. Die graue Auslegeware ist mit Kartons vollgestellt, die wiederum voller Briefumschläge sind. 1500 Stück, Din-A-4-Format, darin stecken die Wettbewerbseinladungen.

Briefe an: die Landesarbeitsgemeinschaft Aktiv im Ruhestand Sachsen-Anhalt e.V. in Halle, den Landesseniorenbeirat Hamburg, die Stadtbibliothek Heidenheim, die Bücherei im Altenheim Dom-Pedro-Platz in München und die Kreisergänzungsbibliothek des Landkreises Wittenberg, den Caritasförderverein Aachen und das Herz-Jesu-Kloster Bonn. Orte, an denen viele und vor allem alte Menschen sind, oder wo Brötzmann und Filipp einen Zugang zu ihnen vermuten.

Dahinter steckt der naheliegende Gedanke, dass alte Menschen mehr erlebt haben als junge, und dass die Zeit, in der sie noch darüber berichten können, begrenzter ist. Dahinter steckt auch die Annahme, dass eine bestimmte deutsche Epoche noch längst nicht zu Ende erzählt ist. „Der Krieg, die Nachkriegszeit“, sagt Filipp, „das war ja ein völlig elementares, zerstörendes Erlebnis, obwohl noch 50, 60 Jahre danach kamen.“ Der Krieg, dort, wo Brötzmann und Filipp nach Lebensgeschichten suchen, ist immer noch da.

Es gibt mehrere Kategorien beim Wettbewerb. Es gibt die Kategorie Persönlichkeit, in der es um nichts anderes als die Summe eines einzigen Lebens geht, die Kategorie, in der in diesem Jahr Susanne Huber gewann. Es gibt die Kategorie Zeitzeuge, das Miterleben einer bedeutenden historischen Situation. Es gibt schließlich die Kategorie Engagement, und das ist der Moment, in dem Loring Sittler dazukommt.

Anfang des Jahres, Berlin, das Café Einstein Unter den Linden. Loring Sittler setzt sich an einen der Tische, er kommt gerade von einem Gespräch mit dem Unterabteilungsleiter Engagementpolitik im Bundesfamilienministerium. Er sagt, er habe mit dem Unterabteilungsleiter darüber gesprochen, dass bald eine große Stiftung im Ministerium vorstellig werden und Rat suchen würde, wo sie ihr Geld hintun solle. Sittler hat ein paar Empfehlungen gegeben.

Sittler ist also ein einflussreicher Mann. Der Politikbetrieb hört seinen Empfehlungen zu. Allerdings führt der noch nicht seine Worte im Munde, denn Sittler sagt zum Beispiel den für den Politikbetrieb undenkbaren Satz: „Sozialversicherung, Pflege, Rente et cetera, alles wird zusammenkrachen.“ Ursache dafür sei der demografische Wandel. Der Satz ist insofern nicht erstaunlich, als dass Sittler der Leiter des Generali Zukunftsfonds ist, einer Abteilung der Firma Generali. Generali ist eine Versicherung, und Versicherungen machen Geschäfte mit privater Vorsorge. Das Versagen der Staatssozialsysteme, oder auch nur die entsprechende Befürchtung, wären also von Vorteil für sie.

Außergewöhnlich ist allerdings, womit sich der Generali Zukunftsfonds beschäftigt. Er fördert Menschen, die an die Stelle der staatlichen Versorgungssysteme treten oder darüber hinaus gehen. Er unterstützt das sogenannte bürgerschaftliche Engagement, seine eigene Konkurrenz. Sittler sagt: „Wir wollen also Potenziale fördern, die noch nicht gehoben sind und diese Herausforderung meistern können.“ Er meint damit, dass Generali früher einmal Geld für das große Aachener Reitturnier gegeben hat oder für die Karlspreis-Verleihung, irgendwann aber Abstand davon nahm. Sie wollten stattdessen aber auch nicht „Jugend, Sport und Kunst fördern, das machen alle.“

Es sollte etwas sein, das „am Unternehmensschwerpunkt dran“ ist, sagt Sittler, „und so kamen wir auf bürgerschaftliches Engagement. Total unsexy.“ Sein Fonds kümmert sich also um Politikberatung zugunsten des Ehrenamts, lässt wissenschaftliche Studien dazu erstellen und organisiert den Erfahrungsaustausch der Engagierten. „In jeder Kommune gibt es da Wissen drüber, von dem die anderen nichts ahnen“, sagt Sittler. Und dann bezahlt Generali auch den „Was für ein Leben!“-Wettbewerb, Sittler sitzt in der Jury.

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Insgesamt sind für die am Sonntag zu Ende gegangene Runde 221 Bewerbungen eingegangen. Eine aus Hamburg, zwei aus dem Ausland, 30 aus dem großen Nordrhein-Westfalen und 37 aus dem kleinen Berlin. 89 von Männern, 132 von Frauen. Der älteste Bewerber war 94, der jüngste 22. Allein diese Zahlen wären vielleicht schon in der Lage, etwas zu erzählen. Über das territorial unterschiedlich ausgeprägte Mitteilungsbedürfnis der Menschen in diesem Land zum Beispiel, vielleicht aber auch über die unterschiedlich ausgeprägte Verteilung irgendwie herausragender Lebensläufe. Sehr wahrscheinlich aber bedeuten diese Zahlen nichts, es ist keine nach nachvollziehbaren Kriterien erstellte Statistik. Es ist nur der Posteingang zu einem Biografie-Wettbewerb.

Der Sonntag im Museumskino, die Moderatorin der Veranstaltung, Dagmar Berghoff, stellt die Jury vor. Sittler, Frau Filipp von der Filmbiografiefirma. „Die Publizistin Vera Lengsfeld“, sagt Berghoff, „ist sie da?“ Berghoff lauscht in die Stille, dann sagt sie „Nein“. Der Lebenslaufforscher Alexander von Plato, „auch nicht da? Gruß dann“. Die zwei Jurymitglieder, die beim Deutschen Historischen Museum beschäftigt sind, sind offenbar auch nicht gekommen. Vielleicht erzählt das etwas über die unterschiedlich ausgeprägte Neigung, dem eigenen Wettbewerb Gewicht beizumessen. Wer weiß. Im Frühjahr jedenfalls, bei der entscheidenden Sitzung, waren diese sechs Biografieinhaber und Biografieexperten sehr ernsthaft bei der Sache gewesen.

Sie saßen nicht weit weg von hier, auf der Empore des Museumscafés. Auf dem Tisch vor ihnen lagen Notizblöcke und aufgeklappte Laptops, alle waren vorbereitet und sich sehr darüber im Klaren, dass sie eine ungerechte Entscheidung zu treffen haben. Das beste Leben, der beste Zeitzeuge, der engagierteste Mensch. Brötzmann und Filipp hatten denjenigen Kandidaten, die in die engere Wahl gekommen waren, hinterherrecherchiert. Stimmten deren Darstellungen, gab es Zeugen dafür, Fotos, Dokumente? Jeder trug noch einmal die Geschichten seiner Favoriten vor. Und am Ende war die Jury sich tatsächlich einig.

Susanne Huber erfuhr noch am selben Tag davon. Es würde nun also zu jenem Dokumentarfilm über sie kommen, 35 Minuten lang, für jedes Lebensjahr 30 Sekunden. Angelika Brötzmann würde ihn drehen, 35 Minuten, 30 Sekunden pro Jahr, knapp bemessen und doch deutlich mehr als jene fünf Minuten, von denen sie im vergangenen November gesagt hatte, dass kaum etwas dahinein passt.

In ein paar Textzeilen passt noch weniger. Die Wettbewerbsjury hat es dennoch probiert, in der Begründung ihrer Entscheidung für Frau Huber steht: „Frau Huber war bis 2003 Hans-Werner Huber: ein katholisch geprägter Unternehmer, politisch engagiert, verheiratet, mit vier Kindern. Er ist diesen Schritt zur Geschlechtsumwandlung nach tiefen persönlichen Krisen mit Unterstützung seiner Frau und seiner Familie gegangen. Und die dörfliche Gemeinschaft hat diesen Schritt akzeptiert... Es geht auch um die Geschichte eines Unternehmers, der sein Familienunternehmen modernisiert, umwandelt, verliert und wieder ein neues gründet. Und um den gesellschaftlichen und politischen Wandel. Insofern hofft die Jury, dass die Art, wie Susanne Huber ihr Leben gemeistert hat, Inspiration sein kann für viele, weil sie weit über das Thema Transsexualität hinausweist.“

Loring Sittler, der Mann von der Versicherung, hat versucht, sich sogar noch kürzer zu fassen. Zu Jahresanfang, im Café Unter den Linden, hat er von der „Resilienz der Älteren“ gesprochen. Von ihrer Widerstandsfähigkeit.

„Die fallen hin und stehen auf. Die Jüngeren fallen hin und weinen.“

Er hat ein ernstes Gesicht gemacht damals.

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