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Traenen

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Biologie: Tränen lügen doch

Warum weinen wir? Ein Forscher gibt eine neue Antwort auf die alte Menschheitsfrage: um zu täuschen.

Verzweiflung, Trauer, Wut: Wenn sich Menschen mit starken Gefühlen konfrontiert sehen, kann es sein, dass sie weinen müssen. Psychologen haben in unzähligen Studien untersucht, welche Gefühle sie dazu bringen. Warum ihnen in emotionalen Augenblicken aber ausgerechnet eine salzhaltige Flüssigkeit aus den Augen rinnt, konnten sie bis heute nicht erklären. Der Evolutionsbiologe Oren Hasson von der Universität Tel Aviv hat nun versucht, diese Frage zu beantworten, völlig emotionslos. Hasson vermutet, dass Menschen weinen, um Feinde zu beschwichtigen – oder zu täuschen.

In der Fachzeitschrift „Evolutionary Psychology“ beschreibt der Forscher zunächst, dass Tränen die Sehfähigkeit eines Menschen behindern. Dass sie seine Möglichkeit einschränken, auf seine Umwelt zu reagieren, und ihn so verwundbar machen. Hassons Schluss: Tränende Augen signalisieren einem möglichen Aggressor eine verminderte Angriffs- und Verteidigungsfähigkeit. Dieser Anblick verringere das Aggressionspotenzial des Angreifers, weil es Unterwürfigkeit zeige und Mitleid erzeuge. Zugleich signalisiere ein Weinender anderen Menschen Hilfebedürftigkeit. „Weinen kann sich als Befriedungssignal an einen Aggressor richten oder an Verbündete“, heißt es in dem Artikel.

Mit seiner These geht Hasson einen gänzlich anderen Weg als die meisten seiner Mitstreiter. Er klammert die emotionalen Gründe für das Weinen weitgehend aus. Stattdessen versucht er zu beschreiben, welche evolutionären Vorteile es dem Menschen verschafft, wenn er Tränen vergießt.

Schon der Biochemiker William Frey versuchte in den achtziger Jahren das Weinen zu erklären, indem er sich auf die biologischen Gründe beschränkte. Seiner Meinung nach scheidet der menschliche Körper beim Weinen toxische Stoffe aus, die er in Stress-, Angst- oder Schmerzsituationen entwickelt. Bis heute konnte die Wissenschaft aber keine Schadstoffe in den Tränen von Menschen feststellen. Fragwürdig ist seine Theorie auch, weil ein großer Teil der Tränenflüssigkeit den Körper nicht über die Augen verlässt. Sie fließt über den Tränennasengang in die Nasenhöhle und von dort in den Rachen. Von einer reinigenden Funktion des Weinens kann daher kaum die Rede sein. Zumindest aus biologischer Sicht nicht.

Psychologen gehen dagegen davon aus, dass Weinen eine kathartische Funktion erfüllen kann. Das behauptete schon Sigmund Freud. Allerdings gebe es auch Untersuchungen, die zu dem Ergebnis kommen, dass Weinen nicht generell vorteilhaft für die psychische Gesundheit ist, sagt der Psychologe Atilla Höfling von der Universität Würzburg. „Positive Gefühle verschafft es Menschen vor allem, wenn ihnen das Tränenvergießen auch nutzt – sei es, indem ihnen Zuwendung oder Hilfe zuteilwird.“ Das wäre durchaus mit Hassons These vereinbar, fügt Höfling hinzu. Und dass Tränen das Aggressionspotenzial möglicher Angreifer verringere, hält Höfling ohnehin für plausibel. „Ein trauriger Gesichtsausdruck stiftet auch Trauer bei dem, der ihn betrachtet. Mit Aggressionen ist das nicht vereinbar.“

Für seine Studie entwickelte Hasson noch eine zweite, entgegengesetzte These, die bei seinen Kollegen auf weniger Zustimmung stößt. Hasson kann sich vorstellen, dass Weinen dem Menschen beim Lügen hilft. „Tränen erzeugen einen Flüssigkeitsfilm auf den Augen, der oft von einer Rötung begleitet wird und so Betrachter davon abhält, die Blickrichtung und womöglich auch Pupillenbewegungen des Weinenden zu erkennen“, schreibt Hasson. Tränen könnten so die wahren Intentionen eines Menschen verschleiern – zum eigenen Vorteil natürlich. Lag der Schlagersänger Michael Holm evolutionsbiologisch etwa falsch, als er in den siebziger Jahren sang: „Tränen lügen nicht“?

Für einen Täuschungsversuch seien Tränen aber kaum geeignet, sagt Atilla Höfling. „Es ist fraglich, ob der Nutzen der Täuschung die Einschränkungen der eigenen Sehfähigkeit rechtfertigt.“ Wenn das so wäre, hätte sich Weinen wohl auch im Tierreich als Strategie durchgesetzt. Abgesehen vom Menschen konnten Wissenschaftler bisher keinem einzigen Tier nachweisen, dass es in emotionalen Momenten Tränen vergießt.

Issio Ehrich

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