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© dpa

Bundesgerichtshof: Schwer zu vermitteln: Sexualtäter bleibt frei

Ein Sexualtäter, der seit seiner Haftentlassung im nordrhein-westfälischen Heinsberg lebt und dort rund um die Uhr bewacht wird, bleibt nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf freiem Fuß. Warum?

„Vor mir braucht keiner Angst zu haben“, sagt Karl D. von sich. Seine Opfer werden anders von ihm sprechen. Der heute 58 Jahre alte Mann ist, obwohl seinen ganzen Namen niemand nennen darf, der wohl bekannteste Sexualstraftäter der Republik. In Randerath, einem Ortsteil von Heinsberg, der westlichsten Kreisstadt der Republik in Nordrhein- Westfalen, kennt jeder sein Gesicht; ein Steckbrief hatte nach seiner Haftentlassung gewarnt. Gutachten bescheinigen Rückfallgefahr. Bürger demonstrierten, Neonazis nutzten den Fall, um den Empörungsschwall auf ihre Mühlen zu lenken. Trotzdem steht seit Mittwoch fest: Sicherungsverwahrung kommt nicht infrage. Der Bundesgerichtshof hat die Revision gegen den Mann verworfen. Er bleibt frei.

In gewisser Weise ist Karl D. ein Testfall. Ende vergangenen Jahres hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil grundsätzliche Kritik am deutschen System der Sicherungsverwahrung geübt. Gegen dieses Urteil will die Bundesjustizministerin, so ihre gestrige Ankündigung, nun vorgehen.

In den nächsten Jahren könnten Dutzende nachweislich gefährlicher Täter freikommen. Wird jeder Fall an die große Glocke gehängt wie der von Karl D. in den vergangenen Monaten, hätte die Bundesrepublik einiges zu erwarten. Vor dem Ex-Sträfling hatte sogar der örtliche Landrat öffentlichkeitswirksam gewarnt. Die Polizei beobachtet ihn rund um die Uhr, D. steht unter Führungsaufsicht; wenn er sie mal abhängt, wie bei einer Motorradtour bereits geschehen, gibt es sofort Schlagzeilen. Auch jetzt regt sich Protest von Politikern und Polizeigewerkschaft.

Die Ängste mögen übertrieben sein, unbegründet sind sie nicht. In den achtziger und neunziger Jahren hatte Karl D. schwere Vergewaltigungen begangen. Zuletzt präparierte er eigens dafür seinen VW-Bus. In einer Nacht im April 1994 gingen ihm zwei 14 und 15 Jahre alte Tramperinnen in die Falle. Über Stunden vergewaltigte und entwürdigte er sie, drohte ihnen mit einer Pistole, verklebte ihnen den Mund, fesselte sie. Wie kann es sein, dass so ein Mann, Wiederholungstäter zumal, je wieder freikommt?

Die Taten des Karl D. führen mitten hinein in das kaum noch zu überschauende System des Schutzes vor gefährlichen Hangtätern. „Sicherungsverwahrung“, das Wegsperren auf unbestimmte Zeit, hat sich von der ultima ratio zur Abwehr gefährlichster Täter dank zahlreicher komplexer Gesetzesverschärfungen zu einer Standardsanktion entwickelt. Aktuell sitzen mehr als 500 Männer diese besondere Art der Haft ab. Sie gilt in Deutschland nicht als Strafe, sondern als „Maßregel“. Dennoch ist es eine Zelle im Knast. Sicherungsverwahrte haben ein paar Privilegien, weil sie nicht mehr für begangene Taten büßen müssen, sondern „nur“ an künftigen, ungewissen Taten gehindert werden sollen.

Karl D. war nie in Sicherungsverwahrung. Bei seinem Urteil 1995 erkannte ein Gutachter in ihm gar keinen „Hang“ zu Straftaten, wie er für das Wegsperren nötig gewesen wäre. Vielleicht ein Fehler, der aber kaum rückgängig zu machen ist. Eine Strafe, einmal rechtskräftig, kann nachträglich nicht verschärft werden, der Schutz vor rückwirkenden Sanktionen ist ein Menschenrecht.

Weil Sicherungsverwahrung nach Ansicht deutscher Justizpolitiker und Gerichte aber keine Strafe ist, führte man ein paar Jahre später die nachträgliche Sicherungsverwahrung ein, ein umstrittenes Instrument, das greifen soll, wenn sich verurteilte Täter erst während der Haft als gefährliche Hangtäter entpuppen. Die obersten Gerichte bestehen indes darauf, dass es neue, in der Haft aufgetauchte Tatsachen sein müssen, auf die sich die Negativprognose stützt – also nicht etwa alte, möglicherweise fehlerhafte Gutachten durch neue revidiert werden dürfen, um Sicherungshaft anordnen zu können.

So aber sollte es bei Karl D. geschehen. Die Abfuhr für die Staatsanwälte war folglich vorhersehbar. Nur ist dies der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln, weil viele Justizpolitiker die Sicherungsverwahrung als probate und rechtsstaatlich unbedenkliche Allzweckwaffe ausgegeben haben. Das ist sie jedoch nicht. So weckten sie Erwartungen, die nun enttäuscht werden müssen. Deshalb ist derzeit wieder viel von einer Reform des Systems die Rede, auch sollen Schutzlücken geschlossen werden, so steht es im Koalitionsvertrag. Einfach wird das nicht. Das Straßburger Menschenrechtsgericht befasst sich demnächst auch mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Künftig könnte es eher mehr Schutzlücken geben als weniger – es sei denn, man sperrt auch die Richter weg.

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