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© dpa

Chemieunfall in Bhopal: Der Dämon im Dschungel

Es war der größte Chemieunfall der Geschichte: heute vor 25 Jahren im indischen Bhopal. Aber die Tragödie ist längst nicht vorbei. Noch immer sind 100.000 Opfer chronisch krank. Und zur Rechenschaft wurde niemand gezogen.

Jeder Atemzug ist ein Kampf. Ruckartig hebt sich sein Brustkorb, während er die Luft mühsam in die Lunge saugt. Mohammed Sultan sitzt auf der schmalen Stahlpritsche, die linke Hand umklammert das Asthma-Spray, auf dem Kopf trägt er eine schäbige Wollmütze gegen die Winterkühle, die nun in das ungeheizte Krankenzimmer zieht. So sitzt er jeden Tag da, oft viele Stunden. Im Liegen bekommt der 64-Jährige noch weniger Luft. Sein Körper ist ein Wrack, aber sein Lächeln ist von einer Wärme und Würde. Früher war er ein kräftiger Mann. Als Kuli, als Lastenzieher, brachte er sich, seine Frau und die drei Kinder durch. Bis zu jener Nacht auf den 3. Dezember 1984, die sein Leben zerstörte und als größter Chemieunfall der Welt in die Geschichte einging.

40 Tonnen tödliches Giftgemisch entwichen damals aus einem Lagertank einer Pestizidfabrik des US-Konzerns Union Carbide, mitten im Armutsviertel von Bhopal. Sultan lebte im Slum Kazi Camp. „Um 1 Uhr 20 in der Nacht brach Panik aus. Menschen schrien. Meine Lungen brannten wie Feuer, meine Augen schwollen zu“, erzählt er. „Ich packte zwei meiner Kinder und rannte los.“ Bis er bewusstlos zusammenbrach. Er und seine Familie überlebten, aber seine Leber und Lunge sind kaputt. 40 000 Rupien Entschädigung, heute rund 570 Euro, erhielt er – aber erst 1994, zehn Jahre nach der Tragödie. Das Geld sei in acht Monaten weg gewesen. „Für Ärzte und Medizin.“ Heute bekommt er keine Rupie mehr. Seit 21 Jahren verbringt er die meiste Zeit im staatlichen Hospital, das Gasopfer umsonst behandelt. Einmal im Monat besucht er für zwei, drei Tage seine Familie. Das sind die Festtage im Leben von Mohammed Sultan.

4000 bis 8000 Menschen starben damals binnen 72 Stunden, viele Tausend weitere in den Folgejahren. Bis zu 500 000 atmeten das Giftgemisch ein, 100 000 blieben wie Sultan chronisch krank. 25 Jahre ist das her, aber die Tragödie ist nicht vorbei.

Bhopal ist voller trauriger Geschichten. Von betrogenen Opfern, von vergiftetem Wasser und behinderten Kindern. Fünf Minuten Autofahrt entfernt, im Chingari Tageshort, wiegt die 26-jährige Mita ihren Sohn im Arm. Überglücklich war sie, als Sadesh vor acht Jahren auf die Welt kam. Es gibt nichts Wichtigeres für eine Frau in Indien, als einen Sohn zu gebären. Aber nach anderthalb Monaten merkt Mita, dass etwas mit dem Baby nicht stimmt. Spastische Lähmung, diagnostizieren die Ärzte. Sadesh wird nie sprechen, gehen oder allein essen können. Es fällt Mita schwer zu erzählen, sie wirkt verwirrt. Was ihr Mann macht? „Fragt die Krankenschwester“, stößt sie hervor und beginnt zu zittern. Der Mann habe sie wegen des behinderten Kindes verlassen, sagt die Schwester. „Sie hat über den Schmerz und die Schande den Verstand verloren.“

Der Chingari Tageshort ist nun ihre letzte Zuflucht. In den vier dunklen, kleinen Räumen drängen sich Mütter mit behinderten Kindern. So voll ist es, dass einige draußen vor der Tür sitzen. Alle diese Frauen stammen aus den Slums rund um die Giftfabrik. Einige waren wie Mita als Kinder der Giftwolke ausgesetzt. Andere tranken über Jahre Grundwasser nahe der Fabrik. Im Chingari Hort bekommen die Kinder Physio- und Sprachtherapie und die Mütter Zuspruch. Entschädigung können Frauen und Kinder nicht erwarten. Im Einzelfall lässt sich kaum beweisen, dass die Geburtsfehler mit dem Gift zu tun haben. Das könnten nur große Studien belegen. Aber die letzte große indische Studie wurde 1994 abgebrochen, die Resultate sind nicht bekannt. Manche hegen den Verdacht, dass die Ergebnisse so alarmierend sind, dass man lieber nicht weiterforschte.

Bhopal, die Hauptstadt der Provinz Madhya Pradesh, ist eine der hübscheren Metropolen Indiens. Ein großer, im 11. Jahrhundert erbauter Kunstsee trennt die 1,5 Millionen-Stadt heute in Arm und Reich. In der wuseligen Altstadt leben die Ärmeren. Dort steht auch die Chemiefabrik, mitten in einem Meer von Slumhütten, in denen 100 000 Menschen hausen. Von Anfang an schien es gefährlich, die Fabrik dort anzusiedeln. Doch weder Union Carbide, das 50,9 Prozent an der indischen Tochterfirma UCIL hielt, noch die indischen Investoren und der indische Staat, denen 49,1 Prozent gehörten, schien dies weiter zu sorgen.

Auf der anderen Seeseite, in Neu-Bhopal, ist die Welt in Ordnung. Dort leben die Reichen und Mächtigen. Weit weg von dahinsiechenden Gasopfern wie Mohammed Sultan und verzweifelten Slum-Müttern wie Mita. Hier wohnt auch Babulal Gaur, in einem Bungalow am Fuße eines der sieben Hügel Bhopals. Die Novembersonne scheint, in einem Käfig zwitschern Kanarienvögel, und Gaur ist guter Dinge. Gekleidet in eine weiße Kurta, dem indischen Hängehemd, lädt er zum Gespräch in den Garten. An seinen Fingern glitzern Diamant- und Perlenringe, die Insignien des Erfolgs. Ein Diener serviert Kekse und Chai, den Milchtee. Der 80-jährige Gaur ist ein Politikveteran, Mitgründer der Hindupartei BJP, die Madhya Pradesh derzeit regiert. Für einige Zeit war Gaur selbst Regierungschef des Bundesstaates. Heute ist er Minister für die Gasopfer, so jedenfalls sein Titel.

Für Gaur ist die Tragödie Vergangenheit. Die Opfer seien entschädigt worden, sagt er. Auch von missgebildeten Kindern will er nichts wissen. Sicherlich gebe es Verluste. „Aber überall auf der Welt gibt es Unglücksfälle und Schicksalsschläge im Leben.“ Auch die Klagen über verseuchtes Grundwasser wischt er weg: „Die Fabrik ist sicher.“ Man habe 350 Tonnen giftigen Abfall eingesammelt. „Den Rest hat der Monsun in den letzten 25 Jahren weggewaschen“, sagt er. Trotzdem versorge man die umliegenden Slums mit Trinkwasser.

Auf der anderen Seite des Sees verkauft Nisha wie an jedem Tag in ihrem winzigen Kiosk Süßes und Knabberzeug. Damit verdient sie zehn bis 20 Rupien, also 14 bis 28 Cent, am Tag dazu. Sie, ihr Mann und die fünf Kinder leben im Slum Atal Ayub Nagar, zwischen der Rückseite der Giftfabrik und den Bahngleisen. Nicht unweit ihrer Hütte steht ein städtischer Wassertank. Er ist leer. Wie so oft in den letzten Jahren, sagt Nisha. Dann trinken sie und ihre Kinder das Grundwasser aus der Handpumpe. „Am nächsten Tag sind wir jedes Mal krank“, sagt die 35-Jährige, deren Haar schon grau wird und die kaum noch Zähne im Mund hat.

Am Tor zur alten Fabrik vertreiben sich sechs Polizisten die Zeit mit Kartenspielen. Sie sind ohnehin eher Dekoration. Die Mauer um die Fabrik ist an vielen Stellen längst eingebrochen. Slum-Kinder spielen auf dem verseuchten Gelände Kricket, Frauen sammeln Brennholz, Vieh grast dort. Seit 25 Jahren rottet die Ruine der Fabrik vor sich hin. Wie verwunschen wirkt das Gelände mit seinen verrosteten Anlagen, die der Dschungel nun zuwuchert.

Tota Ram Chouhan scharrt mit einem Stock am Boden. „Da, Quecksilber“, sagt er und zeigt auf silberne Kügelchen. „Diese Fabrik ist ein Dämon.“ Der Mittfünfziger arbeitete bis 1982 als Ingenieur in der Fabrik. Union Carbide sei schuld, sagt er. Die Katastrophe sei absehbar gewesen. Schon vorher habe es mehrere kleine Gasunfälle gegeben. Immer wieder zieht er hektisch an seiner Bidi, der indischen Zigarette. Er wirkt wie ein Getriebener, einer der besessen ist von der Mission, diese Tragödie endlich zu stoppen. Chemiemüll der allerschlimmsten Sorte lagere weiter auf dem Gelände, sagt er. „Man kann das Gift riechen.“

Aber niemand will für die millionenteure Sanierung zahlen. Nicht der US-Konzern Dow Chemical, der Union Carbide 2001 kaufte, allerdings ohne den Indien-Ableger. Und nicht der indische Staat, der sofort nach der Tragödie die Kontrolle über die indische Carbide-Tochter übernahm und sie 1996 ganz kaufte. Das Fabrikgelände selbst gehört seit 1998 dem Staat Madhya Pradesh. 2005 verdonnerte ein Gericht die Landesregierung dazu, zumindest eine neue Mauer um das vergiftete Gelände zu bauen. Das ist bis heute nicht geschehen.

Die Gastragödie ist auch eine Geschichte endloser Skandale. Und eine Geschichte darüber, wie Indien seine Armen behandelt. Zwar übernahm Union Carbide die „moralische Verantwortung“ und zahlte 1989 einmalig 470 Millionen Dollar Entschädigung. Doch das reichte bei weitem nicht, viel Geld verschwand in den Taschen der Falschen. Mehr noch: Indiens Bürokratie verzögerte die Auszahlung über Jahrzehnte. Im Jahr 2004 befahl schließlich das Oberste Gericht dem Staat, eine mit Zinsen auf 320 bis 500 Millionen Dollar gewachsene Restsumme an die Geschädigten auszuzahlen. Ob dies geschehen ist, ist unklar. Und bis heute wurde niemand für die Tragödie zur Rechenschaft gezogen. Zwar sind Verfahren gegen den damaligen Union-Carbide-Chef, den heute 88-jährigen Amerikaner Warren Anderson, und weitere acht Carbide-Führungskräfte anhängig. Ebenso wie gegen fünf indische Ex-Manager von UCIL. Aber alle sind auf freiem Fuß, und keiner wird wohl je verurteilt werden.

Christine Möllhoff[Bhopal]

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