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Coney Island

© AFP

Coney Island: Jubel, Trubel, Niedergang

Coney Island: einst größte Amüsiermeile der Welt, bis heute Rummelplatz für New Yorks kleine Leute. Das könnte sich jetzt ändern.

Am besten, der Blick geht geradeaus: auf die erwartungsvollen Augen der Fünfjährigen, die mit einer Drahtangel Plastikenten aus einem Wasserbecken fischen. Auf die Wurfbuden, an denen Jugendliche mit Schaumstoffbällen Kegelpyramiden zum Einsturz bringen wollen. Oder auf Nathans berühmte Hot-Dog-Bude, gegründet 1916 von Ida und Nathan Handwerker, Einwanderern aus Ungarn.

Auf Augenhöhe hält Coney Island, New Yorks legendäre Vergnügungsmeile am Strand von Süd-Brooklyn, noch am ehesten, was der Ruf verspricht. Lichtorgeln, musikalisches Durcheinander, und die Brise vom Meer trägt eine Mischung aus Westerngrill und Mexikotortilla, Maschinen- und Frittenöl, Popcorn und Zimt durch die Luft. Noch dehnt sich dieser ewige Rummel, dieser Vergnügungspark von Weltruf über eine Fläche von sechs Straßenblocks zwischen dem New-York-Aquarium im Osten und dem Abe-Stark-Eisstadion im Westen, der Surf Avenue im Norden und dem Boardwalk im Süden, dem breiten, bohlengepflasterten Flanierweg am Meer. Doch mit dem Ende der Sommersaison wird er schrumpfen. „Astroland“ soll schließen, das Herzstück und etwa ein Sechstel der heutigen Fläche.

Der Immobilienfonds Thor Equities hat das Gelände für 30 Millionen Dollar gekauft wie schon viele andere Parzellen in der Umgebung. Insgesamt 120 Millionen hat Geschäftsführer Joe Sitt bereits in den Bodenerwerb gesteckt. Noch einmal 1,5 Milliarden will er sich die „Entwicklung“ zu einem digitalen Unterhaltungspark kosten lassen.

Ist es das Ende oder der Neubeginn? Es scheint, als würden derzeit zwei Coney-Island-Inszenierungen in New York gegeben: eben jenes Drama über Tod oder Auferstehung für die Medienbühne. Und ein Dokumentarwerk über die harte Realität der Stadtentwicklung mit komödiantischen Einlagen hinter den Kulissen.

Wer Coney Island besucht, dem wird es schwer fallen, die Augen immer geradeaus zu richten, auf Jubel und Trubel. Wer nach oben schaut, sieht nicht nur die drei Wahrzeichen von Coney Island, den gut 80 Meter hohen „Parachute Jump“, eine Stahlkonstruktion von 1939 für Fallschirmabsprünge, „Deno’s Wonder Wheel“, ein Riesenrad aus den 1920ern, und „Cyclone“, die Achterbahn, eine weiß gestrichene Holzkonstruktion von 1927. Er sieht vor allem Bilder des Verfalls. Die Fenster in vielen Obergeschossen der Backsteinbauten an der Südseite der Surf Avenue sind mit Sperrholz verrammelt. Auch der Blick nach unten lässt sich nicht lange vermeiden, weil man hier ständig stolpert über Löcher im Asphalt. Abfall liegt herum. Stadtbrachen und Hochhaussiedlungen begrenzen das Areal.

Es ist schwer, selbst unter den Schaustellern jemanden zu finden, der die Gegenwart für erhaltenswert hält. Die Betreiberin einer mexikanischen Imbissbude auf dem „Astroland“-Gelände, eine korpulente Frau Ende 50, ist froh über die Schließung. „Wir hatten eh die Nase voll. Lohnt die Arbeit nicht mehr.“ Und Jeff Persily, ein kräftiger Mittvierziger mit dichtem Stalin-Schnauzbart, dessen Familie hier seit drei Generationen Spielautomaten und Imbisse betreibt, sagt: „Mit der heutigen Situation ist niemand zufrieden.“

Gewiss, selbst die schäbige Gegenwart zieht an jedem Wochenende noch Hunderttausende an. 15 Millionen waren es in der Saison 2006. Aber wie soll man das ganze Jahr mit den Einnahmen aus drei Sommermonaten zurechtkommen? Für Investitionen in neues Gerät reicht es Leuten wie Jeff Persily erst recht nicht. Den Kollegen mit den Fahrgeschäften, die „four Dollar per ride“ kassieren, gehe es nicht besser, sagt Persily. Die Besucher seien entweder Touristen, die nur zum Gucken kommen, oder wenig kaufkräftige Amerikaner: Schwarze, Hispanics, Asiaten und Araber aus Brooklyn und der Bronx. Die weiße Mittel- und Oberschicht sucht ihr Amüsement anderswo. Das ist die Kehrseite der Formel vom „demokratischsten, populärsten, klassenlosen Ort auf Erden“, wie die „New York Times“ Coney Island vor kurzem genannt hat.

Der Investor Joe Sitt residiert 18 Meilen weiter nordwestlich, in der obersten Etage eines Geschäftsgebäudes mitten in Manhattan, drei Blocks vom Empire State Building. Der 42-Jährige ist eine schillernde Figur. Der erste Eindruck lässt beide Deutungen zu: renditehungriger Immobilienhai oder Lokalpatriot, der die verfallenden Zauberorte seiner Kindheit wieder erwecken will. Im Designeranzug, mit seinen kurzen dunklen Haaren und der schwarzen Metallbrille erinnert er an den Fußballtrainer Felix Magath, ganz das Bild sachkompetenten Managements.

An Selbstlob dagegen wird nicht gespart, das Werbevideo für sein Coney-Island-Konzept arbeitet mit Effekthascherei und billigen PR-Floskeln. Der „Indoor-Waterpark“ mit Badebecken, Dschungelduschen und Wasserrutschen wird allen Ernstes zur wetterunabhängigen Ganzjahresvariante eines sommerlichen Strandvergnügens erklärt. Eine virtuelle „Hightech-Motorradstrecke“ zur zeitgemäßen Version des legendären „Steeplechase“ aus dem Jahr 1897. Damals konnten die Besucher auf mechanischen Pferden um die Wette reiten. Dazu Einkaufsmalls, Stuntmenshows, Theater und Kino, der Großteil davon überdacht. Die Investition zahlt sich nur aus, wenn sich das Geschäft mit dem Massenandrang von drei auf zwölf Monate ausdehnt, voll klimatisiert.

Das erste Geld hat Sitt auf Flohmärkten verdient. Seine nächste Idee: Ladenraum in den Unterschichtbezirken der Innenstädte billig aufzukaufen und an große Ketten wie Walmart zu vermieten, um „die Konsumwünsche aller Schichten zu bedienen“. Sitt musste selbst zum Händler werden, um seinen Plan zu testen. Er baute die Textilkette Ashley Stewart auf. Die Kreuzung aus den Markennamen Laura Ashley und Martha Stewart suggerierte den Kunden, sie kauften hochwertige Kleidung zu Billigpreisen. Im Jahr 2000 verkaufte Joe Sitt die Kette schließlich mit Millionengewinn und stieg in New Yorks Monopoly ein.

Es läge nahe, die Geschichte nun nach dem Muster vom bösen Spekulanten und der Gegenwehr furchtloser Stadtplaner und Bürgervertreter weiterzuerzählen. Doch zu einer solchen Schwarz-Weiß- Sicht passt Purnima Kapur schlecht, Stadtplanungschefin im Stadtteil Brooklyn, zu dem Coney Island gehört. „Niemand ist glücklich mit dem heutigen Zustand der Meile“, sagt die freundliche Inderin. Seit 17 Jahren arbeitet sie in der Verwaltung.

In Kapurs Büro im Rathaus von Brooklyn lehnt eine Pappzeichnung an der Wand, die Nutzungspläne für die einzelnen Blocks, ein buntes Mosaik aus Grün, Braun, Rosa und Gelb. Dieses „Zoning“ erlaube bisher nicht mal ein Restaurant mit Sitzplätzen im Vergnügungspark, nur Imbissstände, erläutert sie. Es muss überarbeitet werden, darin seien sich alle einig. Veränderung gehöre zur Überlebensregel von Coney Island. Sie sieht es an ihrem zehnjährigen Sohn, mit dem sie regelmäßig hinfährt. Den zieht es zu den elektronischen Spielen, nicht zu den klassischen Fahrgeschäften. „Ich wäre geradezu enttäuscht, wenn die Meile sich nicht immer wieder neu erfindet“, sagt sie.

Es ist wohl wirklich so: Der Gegenwart würde, wenn sie denn untergeht, kaum jemand nachweinen. Was aber nicht heißt, dass Anwohner, Stadtplaner und Geschäftsleute sich freudig in Joe Sitts Arme werfen. Um die Zukunft wird hart gerungen. Kräftige Übertreibungen in den Medien gehören dazu. Vorwürfe, er plane Spielcasinos wie in Las Vegas, erklärt Sitt für „reine Dichtung“. Ebenso den Verdacht, er wolle das Gelände einzäunen und 40 Dollar teure Tagespässe ausgeben wie in Disneyland. Das ginge auch gar nicht, sagt Stadtplanerin Kapur. Die Straßen, die mitten hindurch führen, sind öffentliches Land. Es hilft nichts, Sitts Gegner wiederholen die Vorwürfe unbeirrt.

Jedenfalls hat Joe Sitt sich mit seinem ersten Masterplan im Frühsommer eine Abfuhr geholt: bei Bürgerversammlungen und in den Zeitungsspalten. Im überarbeiteten Entwurf verschwand dann das am Boardwalk geplante 40-stöckige Hochhaus, ebenso hunderte Luxuswohnungen. Die eingesessene Bevölkerung – viele davon Sozialmieter aus den Bettenburgen, die nördlich der Surf Avenue an das Vergnügungsviertel anschließen – hatte geargwöhnt, Sitt wolle sie vertreiben. Das Versprechen von tausend neuen Arbeitsplätzen kam bei ihnen dagegen gut an.

Vermutlich hat sich Joe Sitt keinen Gefallen getan, als er sich in „Hoppla, jetzt komm’ ich“-Manier zum Retter von Coney Island stilisierte. Seine Pläne werden nicht nur an der Realität, sondern auch am Mythos dieses Ortes gemessen. Szenen großer Hollywoodfilme wurden hier gedreht: „Der Große Gatsby“, „Warriors“, Woody Allens „Stadtneurotiker“. Und Historiker sagen, der von Hunderttausenden Glühbirnen erleuchtete Distrikt sei die erste Verheißung der Neuen Welt gewesen, die Einwanderer vom Schiff aus erblickten; nicht die Freiheitsstatue.

Ein halbes Jahrhundert lang lag auf Coney Island die längste und spektakulärste Amüsiermeile der Welt. Ursprünglich waren es drei Freizeitparks, die am Strand des Atlantiks gebaut wurden: 1897 das „Steeplechase“, 1903 der „Luna Park“ und ein Jahr später „Dreamland“. Es gab eine Kopie des Canal Grande in Venedig mit Gondeln und Rialto-Brücke, einen Nachbau der Ruinen von Pompeji, eine Alpenlandschaft. An Fallschirmen stürzten sich Menschen von Türmen. Sie schrien in den Berg- und Talbahnen, die „inexhaustible cow“ gab temperaturregulierte Milch ab, und im rotierenden „Barrel of Love“ wurden Frauen und Männer durcheinander geworfen. Nervenkitzel aller Art – auch der grausamsten – gehörten zu Coney Island.

Frühgeburten wurden ausgestellt. „Freak-Scouts“ klapperten das ganze Land nach absonderlichen Menschen ab und brachten sie her, um sie zu zeigen, die bärtige Lady Olga zum Beispiel, die 300 Kilo schwere Jolly Irene oder die Bewohner von Lilliputia, dem Königreich der Zwerge im „Dreamland“. Oder die Geisterbahnen. In seiner „Amerikafahrt“ schrieb der deutsche Schriftsteller Wolfgang Koeppen über seinen Besuch einer Coney-Island-Gruselattraktion: „Ich sah Blut, an Wand und Boden geschmiertes, gegen die Decke gespritztes Blut … die Erwürgten, die Erschlagenen, die erstochenen Frauen, die in der Stadt wirklich geschehenen Familientragödien, in einer Badewanne lag der zerstückelte Leib einer 13-Jährigen, ein Vater sperrte seinen ermordeten Sohn in den Kühlschrank, eine Frau bestieg, gellenden Mundes, den elektrischen Stuhl …“

Für den Architekten Rem Koolhaas war Coney Island in seinem Buch „Delirious New York“ die „permanente Verschwörung gegen die Realitäten der Außenwelt“. Doch die Wirklichkeit brach bald brutal ins „Nickel Empire“ ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch andere Orte erschwinglich für die Kleinverdiener. Man begann, die verfallende Gegend anderweitig zu bebauen. Der New Yorker Städteplaner Robert Moses ließ in den 50er Jahren Armenwohnungen bauen, gesichtslose Betonblocks. Heute sind die gebliebenen Attraktionen umgeben von Hochhaussiedlungen; vor allem Russen leben nun hier, fast eine Viertelmillion.

Den alten, den verfilmten Mythos hätten die Traditionalisten im Sinn, die seine Neubaupläne ablehnen, sagt Joe Sitt. Nur: Den Mythos gebe es eben nicht mehr. „Drucken Sie einfach zwei Fotos zum Vergleich: die traurige Realität neben meiner Vision“, sagt er. Und: Dass er seine ersten Pläne überarbeitet habe, zeige seine „Bereitschaft, den Bürgern genau zuzuhören und ihre Wünsche zu erfüllen“.

Purnima Kapur will Sitts Pläne erst gar nicht lange diskutieren. „So weit sind wir noch nicht“, sagt sie resolut. Wohin die Reise geht, entscheide nicht ein einzelner Investor. Der Bürgermeister habe vor zwei Jahren ein „strategisches Konzept“ abgesegnet, das Tradition und Modernisierung verbinde. Die Details würden nun in einem „demokratischen Anhörungsprozess mit allen Beteiligten“ diskutiert.

Demnächst beginnt ein mehrmonatiger Weg durch die Instanzen, vom Bezirk bis hinauf zu Bürgermeister Michael Bloomberg. Gewiss, mächtige Investoren können versuchen, ihn oder die Bezirks- und Stadträte zu beeinflussen, schließlich geht ohne ihr Geld nichts. Aber es würde sie schon „sehr wundern, wenn die Vorgaben der Stadtplaner stark geändert werden“, sagt Purnima Kapur. Sitts Waterpark passe hinein. Ebenso ein vielstöckiges Hotel, solange es nicht direkt am Meer steht, Wohnungen dagegen nicht.

Der Herbst naht, Abendtemperaturen und Besucherzahlen sinken. Die Planer ringen weiter. In Coney Island legt der Winter eine weitere Patina-Schicht auf Wonder Wheel und Achterbahn. Für Auferstehungsjubel ist es zu früh. Für das Totenlied auch.

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