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Der Bürgerkrieg von El Salvador: Die blutige Kindheit des Guerilleros Chiyo

Im kleinen El Salvador endet 1992 der grausamste Bürgerkrieg Zentralamerikas. Die Rebellen sind heute an der Macht. Was hat es gebracht?

Dort drüben lag die sechste Infanteriebrigade. Und durch dieses Tal kam die Eliteeinheit.“ Lucio Vásquez steht am Hang und zeigt über die hügelige Landschaft, an deren Horizont der Nachbarstaat Honduras beginnt. Er kennt die Geschichte des Bürgerkriegs von El Salvador, er war selbst dabei. Vásquez erinnert sich an alle Schlachten in der Gegend. Er weiß, an welchem Tag sie begannen, wie lange sie dauerten und wie die Kameraden hießen, die dabei starben. Er ist klein wie ein Junge und wirkt auf den ersten Blick auch so. Auf den zweiten aber sieht man die vielen grauen Strähnen in seinem schwarzen Haar und die tiefen Furchen im Gesicht. „Manchmal“, sagt er, und es klingt ein bisschen Stolz mit, „waren auf diesem kleinen Stück Land bis zu zwölf Brigaden gleichzeitig hinter uns her“.

Lucio Vásquez trug damals den Decknamen Chiyo, und so nennt man ihn noch heute. Chiyo ist im salvadorianischen Spanisch der Name eines Vögelchens. Er war gerade acht Jahre alt, als er zur Guerilla der FMLN ging, der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí. Von ihnen lernte er lesen und schreiben und schießen. Vásquez kämpfte in der Provinz Morazán im Nordosten des Landes. Dort hat der Krieg besonders gewütet, die Armee schlachtete die Einwohner ganzer Dörfer ab. In El Mozote verübte sie im Dezember 1981 ein Massaker, das heute als das größte in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas gilt: In einem drei Tage währenden Blutrausch wurden die Männer erschossen, die Frauen vergewaltigt und erschlagen, die Kinder in eine Kirche gesteckt und zusammen mit dem Gotteshaus verbrannt. Fast tausend Menschen wurden getötet.

Lucio Vásquez war erst Bote und dann Funker, später hörte er für den Rebellensender „Radio Venceremos“ Kurzwellenstationen ab und machte daraus Nachrichten. Getötet hat er sicher auch, aber darüber spricht Vásquez nicht, darüber spricht kein ehemaliger Guerillero. Als er 20 war, schlossen die Regierung und die FMLN einen Friedensvertrag. Das war am 16. Januar 1992. Der Krieg aber lässt Lucio Vásquez bis heute nicht los.

Von allen Bürgerkriegen Zentralamerikas war dieser der grausamste. Innerhalb von zwölf Jahren starben 80 000 Menschen. Anders als in den benachbarten Flächenstaaten Guatemala und Nicaragua gab es im kleinen, überbevölkerten El Salvador keine ruhigeren Gegenden, keine Rückzugszonen im Dschungel für die Guerilla. In allen Landesteilen konnte es jederzeit zu Gefechten kommen – auch in den Städten. Dort mordeten nachts rechte Todesschwadrone. Am nächsten Morgen konnte es passieren, dass Kinder auf ihrem Weg zur Schule an Leichen mit abgeschlagenen Köpfen vorbei mussten.

Am Tag des Friedensschlusses war Chiyo bei seiner Einheit und wusste nicht weiter. „Was sollte ich nun tun?“, fragte er sich. „Etwa Arbeit suchen, bei meinem Lebenslauf? Ich wusste nicht einmal, wie man Land bebaut, ich kannte nur den Krieg.“ 200 Kilometer westlich von seinem Guerilla-Camp, in der Hauptstadt San Salvador, drängten sich zur gleichen Zeit 100 000 Menschen auf der Plaza Cívica. Von einem der beiden wuchtigen Türme der Kathedrale hing ein riesiges rotes Transparent mit den vier weißen Buchstaben, die bis dahin in der Öffentlichkeit verboten waren: FMLN, darüber ein fünfzackiger Stern. Auf einer Tribüne hielten die Comandantes der Guerilla kurze Reden, bevor sie schnell wieder verschwanden. Aus Sicht der Regierung und ihrer Gesetze waren sie zu diesem Zeitpunkt noch immer gesuchte Terroristen. Der Befehlshaber der Aufständischen in der Hauptstadtregion sprach von einem „Sieg des Volkes und der FMLN“ und davon, dass „wir mit dem Friedensvertrag die 60 Jahre währende Militärdiktatur demontiert haben“.

Vor ihm wogte ein Meer aus roten Fahnen. So einen gewaltigen Auflauf hatte es seit dem Begräbnis von Erzbischof Oscar Arnulfo Romero nicht mehr gegeben. Der Geistliche hatte sich in den 70ern um eine Vermittlung zwischen Militärregime und der immer stärker werdenden Guerilla bemüht. Seine Ermordung im März 1980, ausgeführt von einem ultrarechten Killer, markierte den Beginn des offenen Bürgerkriegs: Der riesige Trauerzug am Tag seines Begräbnisses in der Kathedrale an der Plaza Cívica endete im Kugelhagel der Sicherheitskräfte.

Eben dort feierten die Rebellen nun, zwölf Jahre später, den Waffenstillstand. Er sollte am 1. Februar in Kraft treten. Auch Chiyo war erleichtert, in seinem Guerillalager in Morazán, wo sie mitten im Dschungel in Hängematten schliefen. „Wir waren erschöpft vom langen Krieg, und das spürte man auf beiden Seiten“, erinnert er sich. „Viele Soldaten desertierten – und viele Guerilleros auch.“ Sie hätten sich nicht einmal gefragt, was denn nun erreicht worden sei in zwölf Jahren Krieg. „Es ging nur noch darum: Es ist vorbei.“

Die Regierungsseite hätte damals noch jahrelang weiterkämpfen können, behauptet dagegen Mauricio Vargas, ein Exgeneral. Er war Chefunterhändler der Armee in den fast drei Jahre währenden Friedensverhandlungen mit der FMLN. Heute ist er im Ruhestand und Unternehmer. Er importiert das beste Fleisch Zentralamerikas und verkauft es an Luxusrestaurants und Feinschmeckerläden. In seinem Büro über den mit Rinder- und Schweinehälften gefüllten Kühlkammern weist nichts auf seine militärische Laufbahn hin. Kein Orden schmückt die Wand, kein Foto von ihm in Uniform. Nur seine Angestellten nennen ihn weiterhin „General“. Und er hat noch immer Angst vor dem Kommunismus. „Es gibt ihn noch“, sagt er. „Chávez in Venezuela, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador, und auch bei uns regieren jetzt die Kommunisten.“ Dass nur die wenigsten FMLN-Mitglieder aus der früheren Kommunistischen Partei kamen, die Mehrheit aber aus der Gewerkschafts- und Bauernbewegung, viele sogar aus der christdemokratischen Jugend, interessiert Mauricio Vargas heute so wenig wie früher. Dabei gehört er noch eher zu den versöhnlichen Stimmen der Militärs.

Die Armee gilt als der eigentliche Verlierer des Kriegs: Mit dem Friedensschluss endete ihre 60- jährige Herrschaft, deshalb wehrte sie sich lange gegen einen Vertrag. Doch die USA, die den Krieg in El Salvador mit durchschnittlich einer Million Dollar Militärhilfe pro Tag subventioniert hatten, drängten auf eine Verhandlungslösung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war der Stellvertreterkrieg in Mittelamerika sinnlos geworden. Die Amnestie, die vom damals noch rechtsdominierten Parlament verabschiedet wurde, darf auf keinen Fall angetastet werden, sagt Exgeneral Vargas. Die Kriegsverbrechen von Soldaten sollen in El Salvador nicht gesühnt werden. „Sonst hat sich der Friedensvertrag erledigt.“

Rund 6000 Guerilleros sind für diesen Vertrag gefallen. Als die FMLN nach dem Friedensschluss demobilisiert wurde und ihre Waffen an eine Kommission der Vereinten Nationen abgab, meldete sie 6800 Kämpfer. Die Hälfte von ihnen waren Jugendliche im Alter von 12 bis 20 Jahren, Mädchen und Jungen, die nie etwas anderes kennengelernt hatten als den Krieg.

„Ich habe zunächst versucht, mit Lottospielen Geld zu verdienen“, sagt Chiyo. Heute muss er darüber lächeln, damals war es ihm ernst. Er habe sogar an Selbstmord gedacht. „Alles, was mein Leben war, ist mit dem Friedensvertrag verschwunden.“ Von seinen Comandantes fühlte er sich verraten. „Im Krieg haben sie uns in den Tod geschickt. Danach waren sie in der Hauptstadt im Parlament und hatten dicke Autos.“ Schon bei der ersten Wahl, im März 1994, wurde die FMLN zweitstärkste Fraktion im Parlament. 2003 gewann sie mehr Abgeordnetensitze als die rechtsextreme Regierungspartei Arena – und im März 2009 schließlich das Präsidentenamt. Es war das erste Mal in Lateinamerika, dass eine ehemalige Guerilla auf demokratischem Weg an die Macht kam, obwohl es ihr vorher nicht gelungen war, die mit Waffengewalt bekämpfte Regierung zu stürzen.

„Wir hätten zwar noch weiterkämpfen können“, sagt der damalige Comandante und heutige FMLN-Generalsekretär Medardo González. „Aber die Rahmenbedingungen hatten sich dramatisch geändert und nicht zu unseren Gunsten.“ Die Sowjetunion hatte sich aufgelöst, in Nicaragua hatten die linken Sandinisten die Präsidentschaftswahl verloren. „Wir befanden uns auf einer schiefen Ebene, die langsam nach unten führte. Revolutionäre Gewalt hatte keine Zukunft mehr, wir mussten uns in eine politische Kraft verwandeln.“ González empfängt in dem kleinen Saal, in dem die Politische Kommission der Partei ihre Sitzungen abhält. Die Wand der Stirnseite schmückt ein riesiges Schwarz-Weiß-Foto der Menschenansammlung am 16. Januar 1992 auf der Plaza Cívica. González hat damals vor diesen Menschen fast euphorisch gesprochen. Heute fasst er die Erfolge von zweieinhalb Jahren Regierung bescheidener zusammen: „Fortschritte gab es vor allem im sozialen Bereich.“ An öffentlichen Schulen werden heute keine Gebühren mehr verlangt, die Kinder armer Familien bekommen Gratispakete mit Schulutensilien und Schuhen. In den Armenkrankenhäusern muss für die Behandlung nicht mehr bezahlt werden, kleine Ärzteteams reisen übers Land zu Dörfern, die vorher nie medizinisch versorgt wurden. „Aber es ist nichts geschehen, um mit dem neoliberalen Wirtschaftssystem zu brechen“, sagt González.

Damit es damals überhaupt zum Friedensschluss kam, mussten die beteiligten Verhandlungsführer zu einem Trick greifen. Zweieinhalb Jahre hatten die Rebellen unter UN-Vermittlung mit Regierung und Armee gerungen. Dann kam der 31. Dezember 1991, der letzte Tag der Amtszeit von UNO-Generalsekretär Javier Pérez de Cuellar. Dem Peruaner hatte eine Lösung des Konflikts immer am Herzen gelegen. Niemand wusste, ob sein Nachfolger, der Ägypter Boutros Boutros-Ghali, genauso hartnäckig auf Frieden drängen würde. In der Silvesternacht schlossen sich die Delegationen unter der Leitung von Cuellar im UNO-Sitz von New York ein. „Es war kurz vor Mitternacht, und wir hatten noch immer keine Übereinkunft“, erinnert sich Mauricio Vargas, der General im Ruhestand. „Dreimal haben wir die Uhr im Verhandlungszimmer zurückgestellt.“ Am nächsten Tag wäre die Unterschrift des Generalsekretärs wertlos gewesen. „Nach dieser Uhr haben wir dann fünf Minuten vor zwölf eine gemeinsame Erklärung unterschrieben.“

Es war ein dünnes Dokument von nicht einmal einer Seite. Die Kriegsgegner verpflichten sich darin, dem bewaffneten Konflikt „ein definitives Ende“ zu setzen. Der später ausformulierte Friedensvertrag legte dann fest, die Stärke der Armee auf 35 000 Mann zu halbieren und die besonders brutalen Spezialeinheiten sowie paramilitärische Polizeitrupps aufzulösen. Eine neue „Zivile Nationalpolizei“ wurde gegründet, ein Drittel ihrer Belegschaft waren ehemalige Guerilleros. Aber Chiyo wollte nicht Polizist werden: „Ich wäre mir lächerlich vorgekommen mit so einem Pistölchen.“ Im Krieg hatte er mit Sturmgewehren und Granatwerfern hantiert.

Eine Zeitlang half er seinem Vater auf dem Acker, doch das kleine Stück Land der Familie ist viel zu klein für zwei Männer. Sogar in die USA wollte er gehen, illegal, wie so viele Salvadorianer. „Stell’ dir das vor! Zum Feind!“ Eine Menge ehemaliger Guerilleros haben das getan. Stattdessen traf er einen alten Freund wieder, den venezuelanischen Filmemacher Hernán Vera. Der hatte im Krieg unter Pseudonym für den Rebellensender „Radio Venceremos“ gearbeitet und drehte jetzt Seifenopern für das mexikanische Fernsehen. Chiyo heuerte bei ihm an, zunächst als Laufbursche, dann als Beleuchter und schließlich als Kameramann.

Heute arbeitet er für einen anderen Kampfgefährten von damals: Carlos Henríquez Consalvi eröffnete nach dem Krieg in San Salvador ein Museum, in dem er Schriftstücke und Tondokumente aus dem Bürgerkrieg sammelt und aufarbeitet. Seit acht Jahren wohnt Chiyo nun in den Räumen des Museums, besucht Schulklassen und erzählt seine ganz persönliche Geschichte des Kriegs.

Besonders präsent wird die, wenn Chiyo seinen Vater besucht. Der wohnt weiterhin in seinem Häuschen in der Provinz Morazán und bearbeitet mit seinen 88 Jahren noch immer sein Stück Land. Um zu ihm zu kommen, muss man von der nächstgelegenen Stadt aus auf einem ausgetretenen Pfad eine halbe Stunde bergauf gehen. Von hier aus kann man die ganze Gegend überblicken, bis hinüber nach Honduras. Chiyo redet dabei ohne Punkt und Komma, als hätte er Angst vor der Stille. Er erzählt, wie er damals als Siebenjähriger die Kühe seines Vaters hütete, dort drüben auf dieser Wiese, sagt Chiyo. Er hörte Schüsse, aus der Richtung des Elternhauses, gleich hinter dem nächsten Hügel. Er rannte los und sah noch, wie zwei Soldaten aus der Hütte kamen und wegliefen. Als er das Haus erreichte, fand er seine Mutter und seine Schwester erschossen vor. So hat für Lucio Vásquez der Krieg angefangen.

Toni Keppeler, Cecibel Romero

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