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Panorama: "Der Hof im Spiegel": Die Geschichten einer schwirrenden Bahnhofshalle

Emine Sevgi Özdamar zu lesen, ist wie in der Bahnhofshalle einer Metropole zu stehen. Stimmen schwirren laut herum.

Emine Sevgi Özdamar zu lesen, ist wie in der Bahnhofshalle einer Metropole zu stehen. Stimmen schwirren laut herum. Unablässig kommt einem jemand entgegen. Gesichter, die vorübergehen, mit Geschichten auf den Lippen, von denen man Splitter aufschnappt, mit einer Vergangenheit in den Augen, die beim Kreuzen anderer Augen sich hinter Wimpern verbirgt, mit einem unmittelbaren Ziel, zu dem der ganze Körper hinstrebt, und einem fernen, das sich nur ahnen oder imaginieren läßt.

Sie, die Schriftstellerin, ist eine Reisende, die den Vorbeihuschenden ein Lächeln entgegenbringt; ganz Ohr und ganz Auge liest sie Sätze, Mienen, Gebärden, Vergangenheiten und Wünsche auf. Der Anlass, einem Menschen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, ist für sie nie zu klein. Die Liebe, mit der sie das tut, öffnet ihr alle Seelentüren. Und weil sie hineingeht, horcht und berichtet, schallen die Stimmen nicht nur laut in der Bahnhofshalle, sondern auch klar.

In ihrem neuesten Erzählband, "Der Hof im Spiegel", ist die Bahnhofshalle der Hof, auf den die Ich-Erzählerin vom Fenster ihrer Altbauwohnung hinausblickt. Es sind Städte: Berlin, Istanbul, Amsterdam. Oder ein Theater, indem sie ein Stück inszenierte. Ein Zug voller Gastarbeiter. Oder einfach das Wohnzimmer eines alten Mannes. Die Erzählerin steht in der Küche, telefoniert, und schaut im Spiegel über dem Küchentisch das Leben im Hof. Spuren von Existenzen erscheinen auf der glatten Fläche. Ein Licht wird angeschaltet, und die Liebe eines Nachbarn für einen jungen Mann, der im oberen Stockwerk für beide schöne Kostüme näht, rollt vor der Frau an der Strippe ab, ein Herzensdrama aller Tage. Die alte Nonne, die wie eine Grinsekatze grinst und mit "Alice im Wunderland" auf dem Nachtkästchen stirbt; der Rahmenmacher an der Ecke, der sich plötzlich das Leben nimmt; der verarmte Adelsspross, der auf Zeitungsstapeln lebt und stets Baudelaire rezitiert; eine schwarze Familie, die eines Tages nach Afrika zurückkehrt - alle treten im Spiegel auf wie auf einer Bühne. Eingang, Abgang, aber das Stück ist nie zu Ende.

Im Spiegel hat Emine Sevgi Özdamar die Erinnerung an jeden Augenblick gespeichert, die ihre Erzählerin davor verbrachte. Noch harrt darin die tote Mutter mit ihren lebensweisen Reden, die aus Istanbul durch die Ohrmuschel sich mit den Stimmen des deutschen Hofes vermengten. Im Spiegel sind auch alle Toten geborgen, und sie sprechen immer wieder vor. Emine Sevgi Özdamar schreibt so, als wären alles nur Notizen eines Tagebuchs, flüchtige Zitate eines wuseligen, wirren, inneren Geplauders. Es ist jedoch ein Plausch, der Rilkes Ausspruch auf die Probe des Alltags stellt: "Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten." Özdamars Engel sind Menschen, die auf dem Erdball wandern, ihre Toten im Schlepptau. Das kann bei ihr manchmal sogar heißen: im Autogepäckträger. "Ich war glücklich im Spiegel, weil ich so an mehreren Orten zugleich war", schreibt sie in der ersten Erzählung des Bandes. In Wahrheit ist sie, wo sie steht, immer auf Reise durch Räume und Zeiten. "Mein Berlin", das sind das erste und das zweite Berlin ihrer durch neun Jahre Abwesenheit voneinander getrennten Aufenthalte. West- und Ost-Berlin. Die Stadt der Freunde Kati und Theo und die Stadt von Brecht und Benno Besson. Auf der einen Seite die Graffitis des linken Protestes, auf der anderen Inschriften aus Vorkriegsjahren. Polizeihunde und tote Bahnschienen, zwischen denen Gras wächst. Bahnhof Zoo und Ernst Busch.

Özdamar schreibt Details auf, schert sich nicht um die Chronologie und präsentiert dem Leser scheinbar nur subjektive Ansichten der Städte, in denen sie mal war, scheinbar nur farbenfrohe Skizzen aus dem eigenen Erlebnisfundus. Nebenbei enthält die Skizze alle Elemente, aus denen sich ein Historiengemälde zusammensetzen ließe. Man braucht nur näher hinzuschauen, schon zeichnet sich die Komposition ab - und es wird gleich Theater. Zum Beispiel teilt uns die Autorin mit, dass die Brücke vom Goldenen Horn vom Sultan Mahmut II. gebaut wurde, um Moslems und Nicht-Moslems in Istanbul endlich zusammenzubringen, und entlässt sogleich die Fischer ins Bild, die mit Stöcken gegen den neuen Übergang schlugen, weil er ihnen die Arbeit weggenommen hatte. Die Brücke, ein Markenstein der türkischen Geschichte, ist für Özdamar eine Bühne, über die unzählige Nationen und Tierarten laufen, und an deren Enden zwei Verrückten, ein Mann und eine Frau, nackt gestanden und geschrien haben: "Ab hier ist Istanbul mein", "Ab hier ist Kostantinopel mein." Alles ist nah und fassbar wie die Schauspieler und Requisiten einer Szene.

Özdamars Dankrede zur Verleihung des Adalbert-von-Chamisso-Preises schließt den Band. "Meine deutsche Wörter haben keine Kindheit" liefert diverse Erklärungen dafür, dass Emine Sevgi Özdamar, eine türkische Muttersprachlerin, auf deutsch schreibt. Zuletzt wird ihr Lektor Helge Malchow zitiert: "Vielleicht schreibst du in Deutsch, weil du in der deutschen Sprache glücklich geworden bist". Ob es in Deutschland begann oder woanders - die Erzählungen von "Der Hof im Spiegel" sind ein Zeugnis vom Daseinsglück, welches hier auf eine Art bewiesen wird, dass man darüber eher ins Lachen als ins Grübeln oder Staunen gerät. Denn schließlich, neben Tod, Liebe, Schmerz und Freude gehört der Witz zum Leben - wie Emine Sevgi Özdamar es sieht.

Aureliana Sorrento

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