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Panorama: Der Weg aus dem Feuer

Junkies und Drogenhändler, Schläger, Mörder, Messerstecher – schon seit Jahrzehnten verlässt sich Kalifornien auf Kriminelle bei der Brandbekämpfung. Das spart Millionen – für viele ist es aber auch die letzte Chance

Die Stimme des Mannes klingt blechern und hohl. Er ist übermüdet, seine Augen sind blutunterlaufen. Der Mann steht in East Los Angeles, vier Meilen entfernt von Downtown, Welten vom feinen West Hollywood und Santa Monica oder gar Malibu, von den Einwohnern wird das Viertel nur „El Este“ genannt. Der Mann ist Feuerwehrmann. Er hat viel Arbeit in diesen Tagen.

Um ihn herum, in seinem Bundesstaat, steht das Land in Flammen, 2000 Quadratkilometer sind bereits abgebrannt, sechs Menschen sind tot, und eine Million sind auf der Flucht. Es ist einer der größten Brände in der Geschichte Kaliforniens, so viel ist jetzt schon klar, auch wenn nun der Wind nachlässt und die Behörden in Los Angeles, San Diego und der Hauptstadt Sacramento davon sprechen, dass das Schlimmste überstanden sei. Der Mann hat also viel Arbeit, aber nicht in den Wäldern, seit Jahren hat er keine Brände mehr gelöscht. Seine Arbeit ist eine andere; das einzige Feuer, das er in den vergangenen Jahren gesehen hat, war Mündungsfeuer.

Enrique Hurtado arbeitet in einem Stadtteil, in dem fast alle Einwohner Latinos sind und Weiße sich nur tagsüber blicken lassen. In einem Radius von 15 Kilometern gibt es über 200 Straßengangs, sie haben Namen wie „White Fence“, „Frogtown“, „Toonerville“, fast jeder Jugendliche ist Mitglied. Die Umgangssprache im Viertel ist Spanisch, ein Fünftel aller Kinder wächst ohne Vater auf, ein Drittel der Einwohner lebt unter der offiziellen Armutsgrenze, die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gang zu werden, ist laut dem Büro des Bürgermeisters von Los Angeles doppelt so hoch wie im Stadtdurchschnitt. Bäume sind hier so rar wie Zukunftschancen.

Enrique Hurtado steht vor dem einzigen weißen Haus weit und breit, wie ein Leuchtturm steht es da in einem Meer aus baufälligen grauen Gebäuden. Der Eingangsbereich ist vergittert, „Hilfe für das Viertel“ steht an der Tür. Enrique Hurtado rekrutiert Nachwuchs für die Feuerwehr, einen ganz speziellen Nachwuchs: Gangmitglieder.

Junkies und Drogenhändler, Schläger, Mörder, Totschläger, Messerstecher. Männer, aufgefallen wegen Waffenbesitzes, Diebstahls, Autoschiebereien und Drogenschmuggels. Jeder Vierte kommt direkt aus dem Gefängnis, die anderen sind kurz davor einzufahren. Das Sozialprojekt „Aztecs Rising“ ist ihre letzte Chance, denn dort bilden Feuerwehrleute Gangster zu Kollegen aus. 1992 hatte Hurtado die „Aztec Fire Crew“ gegründet, nach den Unruhen in Los Angeles. Er hatte es satt, zu sehen, wie ganze Jahrgänge sich selber umbringen. Er wollte den Gangs den Nachschub entziehen, wollte ein letztes Sicherheitsnetz vor dem Aufprall bieten. Wollte Leuten eine Chance geben, in deren Leben das Schicksal wütet wie das schlimmste Feuer.

Finanziell unterstützt vom Bürgermeister von Los Angeles, ausgezeichnet vom amerikanischen Kongress in Washington, hilft das Projekt nun, für den Staat Verlorene wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Die Ausgebildeten werden vom US Forest Service als Feuerwehrleute übernommen; vorausgesetzt, es brennt in Kalifornien – aber es brennt fast immer, selten so sehr wie zurzeit, aber auch in normalen Jahren bis zu 10 000 Mal. Der Forest Service ist eine Unterabteilung des Landwirtschaftsministeriums, zuständig für fast 200 Millionen Hektar Wald.

„Für die meisten ist es ein komisches Gefühl, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen und für die Regierung zu arbeiten“, sagt Hurtado. Aber: „Nichts stoppt eine Kugel so gut wie ein Job.“

In einer guten Saison, einer, in der es oft brennt, ist es leichter, Gangmitglieder davon zu überzeugen, ihr Leben nicht wegzuwerfen. In einer guten Saison kann ein Firefighter 50 000 Dollar in sechs Monaten verdienen. Das zieht immer, ein stärkeres Argument hat Hurtado nicht, er lächelt. Die Gangster rennen ihm in diesen Tagen die Tür ein. Er sagt: „Wenn du vorbestraft bist, stellt die Stadt dich nicht ein, die Bundesbehörden allerdings schon.“ Waldbrandbekämpfung ist Bundessache. Zudem ist der Job angesehener als etwa der des Polizisten – Polizist kann man in diesem Teil der Stadt nicht werden.

Die Männer von „Aztecs Rising“ werden aber auch gebraucht, wenn es anderswo brennt – in Idaho oder Arizona oder Nevada. Die kalifornischen Firefighter werden gerne angefordert, sie sind die besten. Weil sie so viel zu tun haben, sind sie hervorragend trainiert. Acht der zehn größten Waldbrände in den USA seit 1999 haben in Kalifornien und dem angrenzenden Nevada gewütet. „Aztecs Rising“ bildet 50 Leute im Jahr aus, mehr geht nicht, das Geld ist knapp, die Kapazitäten sind beschränkt.

Viele, die das Programm durchlaufen, waren schon im Gefängnis Feuerwehrleute. 10 000 kalifornische Firefighter sind Strafgefangene, die reguläre Berufsfeuerwehr in den Wäldern besteht dagegen gerade mal aus 1000 Mann. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges arbeiten viele Sträflinge während der Brandsaison in der Feuerbekämpfung. 1964 dann wurden die Inhaftierten sogar offizieller Teil der jeweiligen Fire Departments der kalifornischen Countys. Die Landkreise konnten ihre jeweiligen Feuerwehren radikal verkleinern und teilweise sogar ganz auflösen. Die Gefängnisinsassen sind billiger, sie bekommen einen Dollar in der Stunde. Der Lohn ist für Gefangenenarbeit extrem hoch, der Job daher beliebt; normalerweise bekommt ein Insasse 1,40 Dollar am Tag. Man schätzt, dass die Gefangenenarbeit in der Feuersaison dem Staat 200 Millionen Dollar erspart.

Für die aktuellen Feuer – zwei davon sollen von Brandstiftern gelegt worden sein, die Polizei hat nordöstlich von Los Angeles einen Verdächtigen erschossen – kommen die Neueinsteiger von „Aztecs Rising“ aber zu spät. Fast anderthalb Jahre dauert die Ausbildung, ein- bis zweimal pro Woche treffen sich alle Gangster, um gemeinsam Sport zu machen. An den Wochenenden wird der Theorieteil abgearbeitet, und einmal im Monat lernen sie dann auf dem Gelände der Marinebasis Camp Pendleton zwischen Los Angeles und San Diego, wie gelöscht wird.

Die Ausrüstung stellt die Feuerwehr von Los Angeles. Nichts Provisorisches, es ist die Profiausrüstung, Helm, Gummianzug, Stiefel und Axt, und das ist auch wichtig. Große Waldbrände können Winde erzeugen, die die Hitze des Feuers blitzartig steigern, dabei kann die Temperatur im Zentrum der Flammen 1000 Grad Celsius erreichen. Die sogenannten Konvektionswinde, bis zu 100 Kilometer pro Stunde schnell, lassen alles in ihrer Umgebung austrocknen und aufplatzen, noch bevor das Feuer die eigentlichen Verwüstungen anrichtet. Und die Wälder Südkaliforniens gehören zu jenen Gebieten in der Welt, die am meisten durch Feuer gefährdet sind. Die ganze Gegend ist trocken wie altes Brot, so leicht entflammbar wie der Kopf eines Streichholzes.

Und dennoch ist Südkalifornien auf Katastrophen wie die aktuelle schlecht vorbereitet. Es fehlt an Flugzeugen und schwerem Gerät. Sobald ein Feuer zu groß wird, muss der Notstand ausgerufen werden – nur so gibt es zusätzliche Mittel aus dem kalifornischen Haushalt. 2006 konnten die großen Herbstfeuer nur noch mithilfe von Feuerwehren aus Kanada, Australien und Neuseeland gelöscht werden.

Enrique Hurtado tritt von einem Fuß auf den anderen. Er hat keine Zeit mehr, er wartet auf einen der Ex-Gangster von „Aztecs Rising“, der in die Löschbrigaden integriert werden soll. Hurtado will ihm erklären, wem er unterstellt ist, was seine Aufgabe ist, wie lange er arbeiten muss. „Irgendwo Richtung San Diego“, sagt er. Hinter ihm flimmert die Luft. Man sieht, dass Hurtado erschöpft ist, aber er ist auch wütend. Auf die Politiker – aber vor allem auf die Menschen, die er nun vor den Feuern beschützen soll.

1993 hatten die Wähler in Südkalifornien entschieden, das Steuerrecht komplett zu ändern; die sogenannten „Tax Fighter“, ein Zusammenschluss aus Steuergegnern, haben großen Einfluss, vor allem in San Diego, das jetzt von den Flammen so schwer getroffen wird. Große Teile der Einnahmen der Stadt brachen daraufhin weg – und zuallererst wurden die Ausgaben für die Feuerwehr und andere öffentliche Dienste gekürzt.

Das Fire Department von San Diego kann man seither kaum noch Feuerwehr nennen. Auf fast anderthalb Millionen Einwohner kommen gerade einmal 980 Feuerwehrleute und ein einziger Hubschrauber, der bei großen Bränden gleichzeitig Menschen ausfliegen und Flammen bekämpfen soll. Einen eigenen Rettungsdienst hat das Department gar nicht – zu teuer. Experten schätzen, dass das Fire Department eine Sofortinvestition von 150 Millionen Dollar benötigt, um amerikanischen Standard zu erreichen.

Dann kommt der Mann um die Ecke, auf den Hurtado wartet. Israel Lopez, 28 Jahre alt, 100 Kilo Muskelmasse, zwei Meter groß, abrasiertes Haar, Gangsymbole auf Arme und Unterarme tätowiert. Feuerwehrmann wollte er nie werden. Lopez hatte einen Mann ins Koma geschlagen, wurde angeschossen, schoss zurück, verbrachte vier Jahre seines Lebens im Gefängnis. Als er es verließ, war er drogenabhängig, Crystal Meth, fünf Jahre lang, eine euphorisierende Droge für eine triste Umgebung. Eines Tages wurde er auf der Straße angesprochen, der Mann war Feuerwehrausbilder bei „Aztecs Rising“. Er sagte das Übliche, Lopez solle sein Leben nicht verschwenden, es gebe da ein Programm für Leute wie ihn.

Lopez hasst den Wald, das hat er immer getan, aber er ging mit. „Wir holen die Leute da ab, wo wir sie finden“, sagt Enrique Hurtado.

Es ist Lopez’ dritter Brand. Wenn es nicht brennt, arbeitet er als Ausbilder. Seine Stimme ist leise, sie klingt wie die eines Mannes, der müde ist vom Leben. „Früher war ich Teil des Problems, jetzt bin ich plötzlich die Lösung.“ Er macht eine Pause, er sammelt Spucke in seinem Mund. „Die Arbeit ist hart und gefährlich, ja“, er nickt, um sich selber zu bestätigen. „Aber im Vergleich zu früher“, sagt er, seine Stimme ist jetzt laut und deutlich, „ist die Arbeit im Feuer wie Campen.“

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