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Panorama: Die Armen stehen im Regen

Unwetter gab es an vielen Orten in Europa – doch nur in der Türkei starben so viele Menschen

Als das Wasser ihr Haus einschloss, suchte Familie Tekin in den Ästen eines nahen Baumes Sicherheit. Wie tausende anderer Familien im Südosten der Türkei mussten die Tekins aus dem Dorf Meydan in der Nähe der Stadt Diyarbakir nach tagelangen schweren Regenfällen vor den steigenden Wassermassen fliehen. Vater Vasfi und zwei seiner Söhne konnten den Baum erreichen. Doch als Vasfi seine Frau Saliha und seinen dritten Sohn nachholen wollte, fiel der Junge ins Wasser. Verzweifelt sprang Saliha hinterher – die Leichen der beiden wurden später in drei Kilometer Entfernung gefunden.

Albtraumartige Szenen wie diese spielten sich in den vergangenen Tagen an vielen Stellen des türkischen Südostens ab. Von den schlimmsten Überschwemmungen seit einem halben Jahrhundert ist die Rede. „Wie ein Tsunami“ hätten zwei Meter hohe Wellen aus Schlamm ganze Stadtviertel überrollt, hieß es am Donnerstag in einer Zeitungsschlagzeile – 36 Tote in zwei Tagen lautet die Bilanz. Allein 14 Menschen kamen um, als ein Bus mit Hochzeitsgästen auf dem Heimweg von den Fluten erfasst wurde. In der Stadt Batman starben am Donnerstag vier Erwachsene und sieben Kinder, darunter vier Geschwister im Alter zwischen acht Monaten und fünf Jahren. Todesopfer gab es auch in Sirnak, Kilis und im südtürkischen Mersin.

Seit Tagen regnet es in Südostanatolien ohne Unterlass, viele Flüsse und Bäche sind zu reißenden Strömen geworden. In einer einzigen Woche fiel in der Region Diyarbakir 20 Prozent der durchschnittlichen Jahresmenge an Regen. Straßen und Brücken wurden weggerissen, Autos fortgespült, auf einer Zugstrecke wurden drei Waggons umgeworfen. Mehrere hundert Menschen mussten mit Booten und Hubschraubern von den Dächern ihrer Häuser gerettet werden, viele werden noch vermisst. In einigen Städten ließen die Behörden inzwischen gefährdete Viertel evakuieren; die Bewohner fanden in Schulen und Turnhallen Schutz. Als ein Landrat zwei angereisten Ministern der Regierung in Ankara die Lage schilderte, brach er in Tränen aus.

Und noch sind die Unwetter nicht überstanden. Nach Einschätzung von Meteorologen wird es in Südostanatolien und anderen Landesteilen noch mindestens bis zum kommenden Dienstag weiterregnen, am Wochenende wird stellenweise auch Schnee erwartet. Da an vielen Stellen die Erde schon völlig durchweicht ist, drohen weitere Erdrutsche und Überschwemmungen. Auch in Istanbul wurden hunderte Häuser unter Wasser gesetzt.

Politiker wie der Istanbuler Bürgermeister Kadir Topbas suchen die Schuld bei der Natur. Sie betonen, Herbststurm und Regen seien so stark gewesen, dass dagegen kein Kraut gewachsen sei. Doch die Öffentlichkeit ist anderer Meinung. Ein Kommentator in der Zeitung „Hürriyet“ rief seine Leser auf, den Beschwichtigungen nicht zu glauben. Geregnet und gestürmt hat es in den vergangenen Tagen an vielen Orten in Europa – doch nur in der Türkei starben so viele Menschen.

Die Ursachen für die Katastrophe liegen in Grundübeln, die sich schon bei der Vogelgrippe und bei anderen Unglücken in der Türkei bemerkbar machten: Armut der Bevölkerung und Schlamperei der Behörden. Die Städte im südostanatolischen Kurdengebiet sind in den vergangenen Jahren wegen des langen Krieges zwischen kurdischen Rebellen und der türkischen Armee stark und oft ungezügelt gewachsen: Millionen von Menschen flohen vor den Kämpfen in die Armutsviertel der Städte. Viele der Häuser, deren Bewohner nun ertranken, wurden illegal und im Einzugsgebiet von Flüssen gebaut. Wenn die Gewässer nach starkem Regen plötzlich anschwellen, gibt es für viele Menschen kein Entkommen mehr. Schwarzbauten in hochwassergefährdeten Gebieten würden toleriert, beim Straßenbau werde geschmiert und geschlampt, schimpfte „Hürriyet“: Deshalb sei das jüngste Unglück „ein Spiegel der Türkei“.

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