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Panorama: Die Heldin aus Kröbeln

Ein Au-Pair-Mädchen aus Brandenburg rettete in Irland ein Baby und kam dabei ums Leben

Von Sandra Dassler

Von Sandra Dassler

und Frank Claus

Im vergangenen Sommer hat Nicole Naumburger in Kröbeln ihr Abitur bestanden. Mit 1,0. Danach wollte sie unbedingt hinaus in die Welt. Vor dem Jurastudium erst mal ein anderes Land kennen lernen, eine andere Kultur, andere Menschen. Am Freitag sind diese Menschen in ihr kleines Heimatdorf im Süden Brandenburgs gekommen. Um sich an deren Grab von Nicole zu verabschieden und ihr ein letztes Mal Danke zu sagen. Zur selben Zeit läuteten die Kirchenglocken in einer irischen Kleinstadt. Polizei und Feuerwehr stoppten für einige Minuten den Verkehr – die Menschen nahmen Anteil am Schicksal der jungen Frau.

Als Au-Pair-Mädchen war Nicole im vergangenen August zur Familie McCarthy in Carrigaline nahe der irischen Stadt Cork gekommen. „Ich habe Glück, es ist eine ganz liebe Familie“, hatte sie den Eltern am Telefon erzählt. Aber auch die McCarthys waren von Nicole begeistert. Liebevoll kümmerte sie sich um die 15 Monate alte Maeve und alberte oft mit John, dem achtjährigen Sohn der Familie, herum.

John, erzählen die McCarthys, versteht einfach nicht, warum Nicole nicht mehr da ist. Doch das geht nicht nur ihm so. Weder in Kröbeln noch im fernen Carrigaline können die Menschen begreifen, wie es zu dem Unglück kam. Am Donnerstag letzter Woche hatte die junge Frau wie so oft die kleine Maeve in den Buggy gesetzt und angeschnallt, um spazieren zu gehen. Nicoles Vater, Volkmar Naumburger, erzählt weinend, was er inzwischen über den Unfallhergang erfahren hat:

An einem Zebrastreifen wartete Nicole, bis ein Lkw anhielt. Dann betrat sie die Fahrbahn. Niemand weiß, warum der Lkw in diesem Augenblick wieder losfuhr. Nicole, die sich zu diesem Zeitpunkt auf der Höhe des Vorderrades befand, hätte vermutlich noch zurückspringen und sich selbst in Sicherheit bringen können. Aber sie dachte offenbar nur an das kleine Mädchen vor ihr im Kinderwagen, der direkt zwischen den rechten und linken Rädern des Lkw stand.

Mehrere Zeugen sagten aus, dass Nicole den Buggy nicht losließ, sondern geistesgegenwärtig versuchte, ihn so zwischen die Räder des Lasters zu bugsieren, dass dieser den kleinen Wagen zwar überrollte, aber nicht berührte. Es war, als wenn sich jemand genau zwischen die Schienen legt, so dass der Zug über ihn fährt, ihm aber nichts passiert, berichteten Beobachter. Die kleine Maeve blieb unverletzt. Für Nicole reichte die Zeit nicht mehr. Sie wurde vom Lkw erfasst, erlitt schwerste Kopfverletzungen und starb noch an der Unfallstelle.

Volkmar Naumburger, der nebenberuflich als Fahrlehrer arbeitet, hält sich trotz seines Schmerzes mit Schuldzuweisungen zurück. Er muss sich – was den Unfallhergang betrifft – auf die Aussagen der Zeugen verlassen. Möglicherweise hat die Sonne den Fahrer geblendet, vielleicht gab es einen toten Winkel.

Die irische Familie hat seit dem Unglück ständig mit den Naumburgers telefoniert. In Carrigaline versammelten sich am vergangenen Sonntag über tausend Menschen zu einem ökumenischen Gottesdienst. Viele Einwohner kannten das kluge und fröhliche Mädchen aus Deutschland. Eine Drogerie-Inhaberin hat ein Foto hundertfach kopiert, um es an die Trauernden zu verteilen. Das Bild zeigt Nicole an ihrem 20. Geburtstag am 31. Januar mit Maeve. Das kleine Mädchen bläst die Kerzen der Geburtstagstorte aus.

Zur Beerdigung im heimatlichen Kröbeln waren am gestrigen Freitag hunderte Menschen gekommen: Klassenkameraden, Lehrer, Freunde – und natürlich die McCarthys mit Maeve, John, der Großmutter und weiteren Verwandten. Auch Reverend David Amstrong, der den Gottesdienst in Carrigaline abhielt, flog mit nach Deutschland. „Kröbeln kann stolz sein auf dieses Mädchen“, sagte er am Grab. Seine brandenburgische Kollegin, die Pfarrerin Kerstin Höpner-Miech aus Mühlberg, übersetzte. Sie hatte den Eltern am vergangenen Donnerstag die furchtbare Nachricht überbracht. Wenige Tage später wurde Nicoles Leichnam überführt. Eigentlich wollte sie bis Juli in Irland bleiben. „Ich würde gern noch mehr Menschen und Länder kennen lernen“ hatte sie kurz vor ihrem Tod auf einer Au-Pair-Website verkündet.

Irische Zeitungen schrieben, dass Nicole Naumburger für die McCarthys zur Heldin geworden ist, weil sie das Leben ihrer kleinen Tochter rettete. Für Volker Naumburger ist das tatsächlich ein Trost: „Unser Kind ist nicht umsonst gestorben“, sagte er, als er am Donnerstagabend die McCarthys am Flughafen Berlin-Schönefeld abholte: „Sie hat ein anderes Leben bewahrt.“ Und dann erzählte er völlig erschüttert, dass die kleine Maeve schon seit ihrer Geburt einen Zweitnamen trägt: Nicole.

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