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Panorama: Die Melodie zum Leben

Von Sassan Niasseri Vor zwei Jahren stand sie vor dem Selbstmord, dann kam ein rettender Anruf von Soul-Queen Missy Elliott. Die gab ihr Arbeit.

Von Sassan Niasseri

Vor zwei Jahren stand sie vor dem Selbstmord, dann kam ein rettender Anruf von Soul-Queen Missy Elliott. Die gab ihr Arbeit. Jetzt ist Tweet selber ein Star. Die Lebensgeschichte der R&B Sängerin Tweet liest sich so dramatisch, dass sie eigentlich nicht wahr sein kann. Vielleicht haben Marketingstrategen da ein wenig nachgeholfen: Ausgerechnet weil sie unter ihrer jahrelangen Erfolglosigkeit im Musikgeschäft litt, habe sich Tweet vor zwei Jahren umbringen wollen. Eine Überdosis Schlaftabletten und eine Flasche Alkohol hätten damals schon bereit gestanden, als plötzlich das Telefon klingelte – ein Anruf von ihrer alten Freundin, der Soul-Diva Missy Elliott. Die wollte, dass Tweet den Backgroundgesang zu ihrem neuen Album beisteuert. Eine Rettung in letzter Sekunde, wie es heißt, und scheinbar nur zufällig. Tweet nahm das Angebot gerne an. Dank Missy war sie endlich wieder im Geschäft – sechs Jahre nach Unterzeichnung ihres ersten Plattenvertrags, auf den nie auch nur ein einziger veröffentlichter Ton folgte.

Jetzt ist Tweets Debütalbum „Southern Hummingbird“ (Elektra/ Eastwest) erschienen, und seitdem hat sie keine Ruhe mehr. Das Werk hat durchgängig gute Kritiken erhalten: Die erste Single-Auskopplung „Oops (Oh My)“ wurde in den USA sofort ein Hit, und auch in Deutschland stieg der Dancesong in die Top Ten der Charts ein. Viele sprechen bereits von dem Songereignis des Jahres: komponiert vom Star-Produzenten Timbaland fällt „Oops (Oh My)“ vor allem durch seine pulsierende, hypnotisch kreisende Rhythmik auf.

Ebenso wie der dadurch entstehende Stop-and-Go Effekt der Musik weckt aber besonders der Songtext erotische Assoziationen. Tweet singt: „Oops there goes my shirt up over my head. Oh my/ Oops there goes my skirt dropping to my feet/ Um I was feeling so fine I had to touch myself"- und eine deutlichere sexuelle Anspielung wäre kaum möglich. In Interviews weist die Sängerin deshalb auch augenzwinkernd darauf hin, dass man die Worte nicht so genau nehmen sollte. Sie habe dabei lediglich an eine abstrakte Form der Selbstliebe gedacht, sich nach all den langen Jahren des Misserfolgs eine – rein imaginierte – Streicheleinheit für das Ego gegönnt. Für ihre Anhänger aber ist die Sache längst klar: In dem Song geht es um Masturbation. Darüber lächelt Tweet nur geheimnisvoll. Schließlich bereitet das Rätseln um die Bedeutung des Songs ihrer Popularität weiteren Auftrieb.

Bis vor kurzem war nämlich über die Sängerin, die bürgerlich Charlene Keys heisst, nur wenig bekannt, sogar über ihr Alter gibt es nur Schätzungen: 24, 25 oder bereits 30 Jahre alt soll sie sein. Bereits 1994, sie war gerade in New York angekommen, schloss Tweet einen Plattenvertrag ab. Damals sollte sie als Mitglied der Girl-Group „Sugah“ zu einem Star aufgebaut werden. Doch zu einer Albumveröffentlichung kam es nie, Streitigkeiten mit der Plattenfirma und ihrem Produzenten verhinderten die Aufnahmen. Da sie gleichzeitig aber an eine Art Knebelvertrag gebunden war, der ihr nicht erlaubte, das Label zu wechseln, kam es damit unweigerlich auch zu einem künstlerischen Stillstand. So sah Tweet keine andere Möglichkeit, als wieder zu ihren Eltern, zwei Gospelmusikern, die im südlichen Atlanta ein beschauliches Leben führen, zu ziehen. Alkohol und Pillen liessen die Gedanken an ihre gescheiterte Karriere vergessen. Bis eben zu jenem Tag, als sie sich habe umbringen wollen – und der rettende Anruf von Missy Elliott kam. Die Legende will, dass Tweet schnurstracks in das Büro von Missys Plattenfirma marschierte und auf ihrer Akustikgitarre zu spielen begann – einmal Blut geleckt, sollte eben doch mehr rausspringen als nur ein Job als Background-Sängerin. Missy Elliott verschaffte ihr daraufhin einen eigenen Plattenvertrag, und wenig später begann Tweet die Aufnahmen zu „Southern Hummingbird". Inzwischen, so sagt sie, sei sie mit ihrem Leben wieder im Reinen.

Schon jetzt wird Tweet mit der im letzten Jahr verstorbenen R&B-Prinzessin Aaliyah verglichen, und das nicht nur wegen ihrer ähnlichen Gesangsstimmen und der bisweilen melancholischen Grundstimmung ihrer Musik. Beide, so urteilt die US-amerikanische Presse, eint eine tragische Biographie. Aaliyah, die schon in frühester Jugend im Musikgeschäft Fuß gefasst hatte (als 15-Jährige heiratete sie den Soulsänger R. Kelly), wurde, auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, durch ihren Unfalltod zu einem Idol. Auch Tweet, die dem Selbstmord rechtzeitig entgangen ist, könne nun ein Vorbild sein. Schliesslich kann sie, die Lebende, ihre Fans von ihren Erfahrungen profitieren lassen. „Noch heute wache ich manchmal nachts auf und habe Angst davor, dass die letzten zwei Jahre nur ein Traum gewesen sein könnten“, sagte die Sängerin einem US-amerikanischem Magazin.

Deshalb verarbeite sie in ihren Songs auch die schlimmen Momente ihres Lebens, ihre Karriere ist damit gleichzeitig auch ihr Schicksal. Denn es dreht sich bei ihr natürlich nicht alles nur um Masturbation. In „Drunk“ zum Beispiel geht es, ein eher untypisches Thema in der Welt der glamourösen R&B-Künstlerinnen, um den Kampf gegen die eigene Alkoholabhängigkeit. In anderen Songs wie „Motel“ teilt sie mit drastischen Worten aus: „Go to hell Baby/ So pack your things and leave“ ruft sie ihrem Exfreund entgegen, den sie beim Fremdgehen ertappt hatte. Besonders durch das spartanische Soundgerüst, das nur aus Gesang und Gitarre besteht, verleiht Tweet dem Stück einen authentischen Ausdruck. „Ich würde mir so eine schreckliche Geschichte nie ausdenken“, sagte sie dem „Stern". „Ich bin doch ein ehrliches Mädchen.“

Ein ehrliches Mädchen, vielleicht. Fürs erste aber habe sie genug vom harten Leben, jetzt will sie ihren Erfolg geniessen. Im Moment befindet Tweet sich auf einer ausverkauften USA-Tournee, zusammen mit der Sägerin Mary J. Blige. Im Herbst kommt sie dann für eine Konzertreise nach Europa.

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