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Panorama: „Ein ganz großes Ding loslassen“

Warum hält ein 16-Jähriger vier Schüler mit Waffengewalt gefangen? Ein Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen

Die Pizza, die er sich über Handy bestellt hatte, weil sein Hunger so groß war, hat er noch aufgegessen. Dann hat er seine letzten beiden Geiseln, einen elf- und einen zwölfjährigen Schüler, frei gelassen und sich der Polizei ergeben. Er, das ist ein 16-jähriger Junge, der am Freitagnachmittag in die Friedensschule in Waiblingen maschiert ist, bewaffnet mit einem Luftgwehr. Sechs Stunden lang hat er vier Schüler in seiner Gewalt gehalten und für ihre Freilassung eine Million Euro plus einen Fluchtwagen gefordert. Bei seiner Vernehmung am Samstag wird er dann sagen, die Idee mit dem Geld sei ihm erst gekommen, als er schon in der Schule war.

Die Nachricht von der Geiselnahme im baden-württembergischen Waiblingen war keine halbe Stunde alt, da liefen bereits die ersten Bilder von dem Polizeiaufgebot vor der Gesamtschule über den amerikanischen Fernsehsender CNN. Und genau wie in Deutschland dreht sich in den USA alles nur um die eine, die schreckliche Befürchtung: Werden wir hier jetzt ein zweites Erfurt erleben? Um 21 Uhr 10 kommt dann die Entwarnung: Der 16-jährige Geiselnehmer hat sich gewaltlos ergeben. Keine Verletzten, keine Toten.

Kränkung und Geltungssucht

Und dennoch, jetzt ist sie wieder da, die Frage, die seit dem Amoklauf von Robert Steinhäuser so oft gestellt worden ist: Was treibt einen jungen Mensch zu einer solchen Wahnsinnstat? „Die Unfähigkeit mit tiefen Verletzungen umzugehen“, sagt Dieter Lenzen, Professor für Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Vielleicht ist das nicht die alleinige, die letztgültige Antwort, aber er ist der Versuch das Unbegreifliche zu begreifen. Jugendliche wie Robert Steinhäuser oder der 16-jährige Geiselnehmer seien narzisstische Persönlichkeiten, Menschen, die beziehungsgestört und leicht verletzbar seien. „Sie können die Kränkungen und Misserfolge, die sie erlebt haben, nicht vergessen“, erklärt Lenzen. Diese Schmach lässt sie nicht los, sie wühlt in ihnen, unaufhörlich, bis sie dann gegen diese ungerechte Welt losschlagen. Der schulische Misserfolg, der ist Robert und dem Jungen aus Waiblingen gemeinsam. Beide wurden ohne Abschluss der Schule verwiesen. Und beide haben sich gerächt. Ansonsten aber gebe es wenig Parallelen, sagt Lenzen.

Robert Steinhäuser war ein unauffälliger, schweigsamer Junge, der von der Wirklichkeit in eine hochaggressive Ersatzwelt abgedriftet war. Nach allem was über den Waiblinger Jugendlichen bekannt ist, ist er ein Angeber, einer der gegenüber seinen Freunden angekündigt hat, dass er demnächst „ein großes Ding loslassen“ werde. Töten aber wollte er nicht. „Das zeigt schon die Tatache, dass er sich auf Verhandlungen mit der Polizei eingelassen und damit die Karten aus der Hand gegeben hat“, so Lenzen. Der Junge hatte nicht die mörderische Entschlossenheit, mit der Robert in dem Erfurter Gymnasium 17 Menschen hingerichtet hat. Er wollte kein Schlussfanal nach Terminator-Muster, er wollte nur zeigen, dass er was drauf hat. „Die extreme Reaktion, nämlich eine Geiselnahme mit Waffengewalt, hat viel mit Selbstisolation zu tun“, meint Lenzen. Jugendliche, die solche Taten verüben, hungern nach Anerkennung, sie lechzen geradezu danach. Dabei ziehen sie sich immer weiter von der Realität zurück. Das macht sie unkontrollierbar, weil die Kluft zwischen Phantasie und Wirklichkeit immer größer wird.

Für den Psychiater Lothar Adler, der das Buch „Amok – Eine Studie“ veröffentlicht hat, sind diese jungen Amokläufer ein beunruhigendes, neues Phänomen. „Bis in die 90er Jahre war die Zahl der Amokläufe weitgehend konstant“, sagte er kurz nach dem Drama von Erfurt. Seither aber steige die Zahl an, weil zunehmend Schüler ausrasten. Warum aber werden Jugendliche zu Killermaschinen? Adler glaubt, dass Nachahmung hier eine bedeutende Rolle spielt, eine Art fataler Werther-Effekt wie bei Selbstmorden. Allein in Deutschland seien in den vergangenen zwei Jahren drei Fälle passiert – und zwar mit wachsender Brutalität.

Wie Robert Steinhäuser ist auch der 16-Jährige aus Waiblingen ein passionierter Computerspieler gewesen. Und wie Robert hat auch er „Counterstrike“ und „Soldier of Fortune“ gespielt. Auf dem Schulhof soll er nach Informationen von „Spiegel-online“ diese Videospiele, die er selbst auf CD-rom gebrannt hatte, verkauft haben. Robert Steinhäuser hatte am PC geübt, wie er mit einem präzisen Schuss einen Menschen töten kann. Je mehr Kopfschüsse er schaffte, desto mehr Punkte gab es. War der Computer eine Art Trainingslager für seinen Amoklauf? Haben die brutalen PC-Spiele vielleicht auch den Waiblinger Jungen zu seiner Tat animiert? „Nein“, sagt Erziehungswissenschaftler Lenzen. In seinem Forschungsprojekt „Medien und Jugendgewalt“ habe er herausgefunden, dass zwischen Verhalten und Konsum von gewaltverherrlichenden Spielen und Filmen kein linearer Zusammenhang besteht.

Warum ein 16-Jähriger Kinder mit Waffengewalt gefangen hielt, wird sein Verhör wahrscheinlich klären. Verstehen aber, wird man seine Tat wohl nie.

Dagmar Rosenfeld

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