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Panorama: Ein mörderisches Versteckspiel

Der Heckenschütze hat sein 10. Opfer getroffen. Die Polizei reagierte sofort – und ist doch noch kein Stück weiter

Von Malte Lehming, Washington

Es ist ein einfaches, unspektakuläres Bild. Den ganzen Tag lang läuft es im Fernsehen, als Hintergrundillustration. Ein silberner Mittelklassewagen ist zu sehen, der in der mittleren Reihe einer Tankstelle steht. Der Zapfhahn hängt noch im Tank.

Das ist alles. Doch dieses Bild geht unter die Haut. Es wirkt wie ein erstarrter Albtraum. Denn der Betrachter weiß, warum die Szene menschenleer ist. Hier wurde am Freitag, gegen 9 Uhr 30, der 53-jährige Kenneth Bridges erschossen. Nichts als der verlassene Zapfhahn deutet darauf hin. Die Blutlache vor dem Auto hatte in Sekundenschnelle der Regen fortgespült.

Bridges ist das zehnte Opfer des unheimlichen Heckenschützen, der die Menschen in und um Washington seit Tagen in Atem hält. Diesmal geschah das Verbrechen rund 70 Kilometer südlich der amerikanischen Hauptstadt, in der Nähe der Stadt Fredericksburg. Die Kreise, die der „Sniper" (Scharfschütze) zieht, werden größer. Und er selbst wird immer dreister. Vor den Augen eines Polizisten, der in unmittelbarer Nähe des Tatortes gerade einen Verkehrsunfall aufnahm, drückte der Täter ab. Sein Opfer, einen Vater von sechs Kindern, traf er in die Brust. Der Polizist hörte den Schuss, konnte aber nicht erkennen, woher er abgefeuert worden war.

Andere Zeugen wollen, wieder einmal, einen weißen Kleinlastwagen am Tatort gesehen haben. Diese Information löste Großalarm aus. Hunderte von Polizisten sperrten innerhalb weniger Minuten sämtliche Auf- und Abfahrten der Autobahn ab, die von Fredericksburg nach Washington führt. Die vermeintliche Fluchtroute des Serienkillers sollte ihm zur Falle gemacht werden. Der gesamte Verkehr wurde auf die rechte Spur geleitet, jeder Wagen durch die Scheiben inspiziert. Besonders kontrolliert wurden alle weißen Kleinlastwagen. Ergebnis? Negativ. Nach drei Stunden brach die Polizei ihre Fahndung ab. Es ist wie verhext. Fast jeder Schuss ein Treffer. Elf Mal in elf Tagen hat der Scharfschütze bislang zugeschlagen. Zehn Menschen wurden getroffen, acht davon starben. Der Täter benutzt ein Gewehr mit Zielfernrohr und Kugeln eines bestimmten Kalibers. Zwei seiner Opfer traf er in den Kopf, in den meisten Fällen zielt er jedoch auf den Oberkörper. Die Distanz, aus der er abdrückt, schwankt zwischen 80 und 150 Metern. Die Opfer haben sich nicht gekannt und weisen auch sonst keine Gemeinsamkeiten auf. Offenbar wahllos geht der Täter vor, angestachelt durch den bloßen Ehrgeiz, präzise morden zu können, ohne erwischt zu werden. Sein Charakter bleibt nebulös. Es könnte ein frustrierter Soldat sein, ein eingeschleuster Terrorist, ein durch Computerspiele animierter Teenager oder ein ganz normaler Psychopath. Die einzigen Spuren, die er hinterlassen hat – eine leere Patronenhülse und eine Tarot-Karte mit der Aufschrift „Lieber Polizist, ich bin Gott" – könnten die Fahndung erleichtern. Sie könnten aber auch absichtlich hinterlegt worden sein, um die Ermittler auf falsche Fährten zu führen. Außerdem ändert sich offenbar die Motivation des Snipers. „Seine ersten Morde waren lediglich heimtückisch und wahllos", sagt Brent Turvey, ein Kriminalexperte, der sich aufs so genannte Profiling spezialisiert hat – das Erstellen eines Täterprofils.

„Doch inzwischen reagiert er eindeutig auf sein Umfeld, die Presse, die Polizei." Als es hieß, die Schulen seien sicher, nahm er sich als Opfer einen 13-jährigen Jungen vor. Als es hieß, er sei vor allem im Norden Washingtons tätig, ging er in den Süden. Als die Polizei öffentlich ihre Hoffnung äußerte, ihn einkreisen zu können, verlagerte er seine Attentate in die unmittelbare Nähe von Autobahnauffahrten. Für die Ermittler bedeutet das ein permanentes Lavieren. Die Öffentlichkeit, die in höchstem Maße beunruhigt ist, will Erfolge sehen. Immerhin kostet die Fahndung mehrere Millionen Dollar. Allein, um die 235 Schulen in der betroffenen Gegend zu schützen, müssen täglich Zehntausende von Dollar ausgegeben werden. Falls die Suche nach dem Scharfschützen anhält, könnte sie zum teuersten Polizeieinsatz in der US-Geschichte werden. Zum Vergleich: Die Bekämpfung der Rassenunruhen 1992 in Los Angeles kostete 12,9 Millionen Dollar, die Jagd nach dem „Zodiac Killer", Anfang der neunziger Jahre in New York, verschlang 1,6 Millionen. Andererseits soll der Sniper nicht erfahren, was die Polizei weiß. Er soll auch nicht provoziert werden. Deshalb sickern die Informationen nur spärlich durch. Über den Täter ist offiziell so gut wie nichts bekannt. Über dessen Opfer dagegen umso mehr.

Sarah Ramos zum Beispiel, das vierte Opfer. Die 34-jährige Frau saß am Morgen des 3. Oktober in einer Einkaufsgegend allein auf einer Bank. Dort wartete sie, wie jeden Morgen, auf einen Fabrikbus, der sie zu ihrer Arbeit bringen sollte. Um 8 Uhr 37 durchschlug die Kugel ihren Kopf. Sie hinterlässt einen siebenjährigen Sohn. Die Bank, auf der sie saß, ist seitdem zum Wallfahrtsort geworden. Sie wird mit Blumen bedeckt, mit Kerzen und mit Kreuzen. In Anspielung auf die makabere Tarot-Karte, die der Täter hinterlassen hatte, hat jemand auf ein Schild geschrieben: „Du sollst nicht töten! – Gott."

Sollte es das Ziel des Heckenschützen sein, Panik zu verbreiten, hat er bereits gewonnen. Die Menschen gehen in Deckung. In und um Washington wurden an diesem Wochenende alle Sportveranstaltungen abgesagt. Tankstellen, die sich in der Nähe von Autobahnauffahrten befinden, werden gemieden. Ehemalige FBI-Agenten und Elite-Soldaten geben im Fernsehen Überlebenstipps. Möglichst im Zickzack gehen, nicht länger als drei Sekunden regungslos auf einer Stelle stehen, abends und nachts sich nicht im offenen Gelände bewegen, sondern im Häuserschatten oder von Baum zu Baum.

Und weil jeder so machtlos wie verzweifelt ist, blühen die Spekulationen. Allein im Bezirk Prince William sind in anderthalb Tagen 13 000 Telefonanrufe bei der Polizei eingegangen. Am Stammtisch betätigen sich die Menschen als Amateur-Profiler. Alle Tatorte werden auf einer Karte eingezeichnet. Vielleicht arbeitet der Täter ja nach einem logischen System. Er könnte, das sagt eine Theorie, einen fünfzackigen Stern beschreiben wollen. Dann wären diese und jene Gegenden vorläufig sicher. Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist wahrscheinlich auch diese Theorie vom Scharfschützen widerlegt worden.

Die breite Berichterstattung in den Medien könnte den Täter nach Ansicht von Experten beflügeln. „Die ersten Schüsse waren wie eine Orgie“, zeigte sich Gerichtsmediziner Brent Turvey überzeugt. „Er will jetzt beweisen, dass er kein Verlierer ist.“ Strafrechtsprofessor James Alan Fox sagte der „Washington Post“: „Sein fortgesetzter Erfolg gibt ihm ein Gefühl der Unverwundbarkeit. Er wird immer waghalsiger werden. Irgendwann wird ihm das zum Verhängnis.“

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