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Panorama: Englands Seele ist getroffen

Von Hendrik Bebber, London Um „positive Spielkraft“ auf die englische Mannschaft zu übertragen, legte sich Michael Mime in York während des Viertelfinales auf ein Bett mit 1050 Nägeln. Fünf Millionen seiner Landsleute, die das Schicksalsspiel gegen Brasilien in den ausnahmsweise früh geöffneten Pubs verfolgten, kauten spätestens nach Rivaldos Anschlusstreffer auf den Fingernägeln.

Von Hendrik Bebber, London

Um „positive Spielkraft“ auf die englische Mannschaft zu übertragen, legte sich Michael Mime in York während des Viertelfinales auf ein Bett mit 1050 Nägeln. Fünf Millionen seiner Landsleute, die das Schicksalsspiel gegen Brasilien in den ausnahmsweise früh geöffneten Pubs verfolgten, kauten spätestens nach Rivaldos Anschlusstreffer auf den Fingernägeln. Es half beides nichts: Englands „Sommernachtstraum“ wich bald einem gewaltigen Katzenjammer.

Auf der Titelseite des Mirror prangte am Morgen des Spiels nur die englische Flagge mit dem Georgskreuz und der Schlagzeile „Die Seite bleibt heute leer. Nichts anderes ist wichtig.“ Betriebe schlossen ganz oder verlegten den Arbeitsbeginn auf den Abpfiff. Statt der traditionellen Morgenandacht versammelten sich die Schulkinder vor den Fernsehmonitoren in der Aula. Gerichtsverhandlungen wurden verschoben, weil die Geschworenen meuterten. Zehntausende Fans kamen auf dem Trafalgar Square und anderen öffentlichen Plätzen zusammen, um auf Großleinwänden Beckham und seine Männer anzufeuern.

Vorsorglich hatte die Polizei die Brunnen um die Säule des Seehelden Lord Nelson abgesperrt, der ebenfalls vergeblich mit seinem Fernrohr nach einem englischen Sieg spähte. Die Klippen von Dover wackelten bei dem Jubelschrei, als Owen den Führungstreffer erzielte. Aber bei dem zweiten Tor der Brasilianer wälzte sich selbst die Themse im kollektiven Gram der englischen Fans. „Mir ist so schlecht wie einem Papagei“, stöhnte der 23-jährige Börsenjobber Charles Eastfield diesen seltsamen englischen Vergleich absoluten Elends, der aber diesmal angesichts des brasilianischen Gegners gut passte.

„Ich bin verzweifelt“, bekannte Premierminister Tony Blair, der in Sevilla den EU-Gipfel verließ, um im Fernsehraum des Konferenzgebäudes England zum Gipfel der Weltmeisterschaft zu begleiten. „Wir können dennoch stolz auf unsere Mannschaft sein“, tröstete der Regierungschef seine Delegation. „Wer hätte gedacht, dass wir so weit kommen.“ Blair freilich hatte dabei nicht die Nation hinter sich. In Glasgow und Edinburgh wurde der brasilianische Sieg fast ebenso ausgelassen gefeiert wie in Rio. „Wir unterstützen jeden, der England schlägt“, sagte Neil Jilette aus der walisischen Hauptstadt Cardiff, der in seinem Fußballandenkengeschäft gar nicht genug brasilianische Fähnchen verkaufen konnte.

Nach der Niederlage alarmierten die telefonischen Seelennotberatungsdienste alle freiwilligen Helfer, um für den rapiden Anstieg von Depressionen fertig zu werden. Womöglich gehört zu den Klienten auch ein Mann aus Birmingham, der in der Nacht vor dem Spiel die Rekordsumme von 100 000 Pfund auf den englischen Sieg gesetzt hatte. Bei den Supermärkten ändert der Spielausgang nichts an dem rasenden Absatz von alkoholischen Getränken und Katerkuren, von denen „Safeway“ nach dem Sieg gegen Dänemark 750 000 Packungen verkaufte. Der Absatz von Kondomen (200 000 Packungen) wird nach dem Stimmungsknick wohl nicht erreicht werden. Die Niederlage hat auch Prinz William seinen 20. Geburtstag versauert, den er nun „still“ begehen will.

Lautstark hingegen feierten die Brasilianer in London ihren Sieg und tanzten in der Oxford Street Samba, während die Engländer kleinlaut um sie einen Bogen machten. Vorsorglich knatterte ein Polizeihubschrauber über der Szene. Recht verknittert begann auch Gareth Godwin aus Barwick seine Ehe mit einer Brasilianerin. Die Trauung wurde um einige Stunden verschoben, während das Paar getrennt mit ihren Freunden und Familien ihre Teams anfeuerten. Gareth war sich des Sieges so sicher, dass er seiner Frau im Falle einer englischen Niederlage versprach, für ein Jahr alle Hausarbeiten allein zu machen.

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