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China

© AFP

Erbeben in China: Vertreibung der bösen Geister

Mit jeder Stunde sinken die Chancen, Lebende zu finden – Besuch in Juyuan, einer Stadt im Bebengebiet.

Das Knallen von Feuerwerkskörpern und das Weinen von Müttern ist zu hören. Auf dem ehemaligen Sportplatz der Mittelschule von Juyuan, die seit dem Beben nur noch ein Haufen Trümmer ist, nehmen Eltern und Hinterbliebene Abschied von den Toten. „Eben haben sie meine Schwester gefunden", sagt Wu Xia mit versteinertem Gesicht. Der Körper der 16-jährigen Nimeng liegt mit einem weißen Tuch bedeckt auf einer Holztür auf dem Boden. Die Eltern sind trauernd in sich zusammengesunken, knien weinend im Matsch. Ein paar Meter weiter entzündet ein Mann Feuerwerkskörper – dem chinesischen Glauben nach soll das die bösen Geister von den Toten fernhalten.

Mit jeder Stunde sinken in Sichuan die Chancen, dass in den Trümmern der zerstörten Häuser noch Überlebende gefunden werden. Trotzdem arbeiten die Helfer mit Hochdruck weiter. Auf dem Gelände der Juyuan-Mittelschule, wo das Beben der Stärke 7,8 die Wände zum Einsturz brachte und 900 Schüler und Lehrer unter Gesteinsmassen begrub, graben Soldaten und Polizisten der Spezialeinheit Wujing mit Schaufeln die Erde um. Wenn die Soldaten müde werden, rücken neue Truppen an.

Wegen des Leichengeruchs tragen die jungen Männer weiße Schutzmasken vor dem Mund. Andere Soldaten schirmen den Unglücksort von den trauernden Angehörigen und Schaulustigen ab, die hinter einer Absperrung warten. Niemand weiß, wie viele Tote hier schon aus den Trümmern gezogen wurden. Einige Angehörige sprechen von mehr als 200 Leichen. „Seit Dienstag früh haben wir keinen Lebenden mehr geborgen“, sagt der Arzt Ning Tao.

Der 27jährige ist seit drei Tagen im Einsatz. Auf den Beifahrersitz eines Krankenwagens ruht er sich kurz aus. Seine Augen sind rot gerändert von der Müdigkeit und von den Schrecken, die er gesehen hat. Er erzählt von einem verschütteten Mädchen, dass mit einem abgetrennten Bein geborgen wurde. Es habe noch gelebt und sei dann im Krankenhaus in Chengdu gestorben, sagt der Arzt. „Jetzt werden nur noch Tote ausgegraben.“ Yan Yipeng harrt trotzdem an der Absperrung aus und starrt auf den Trümmerberg. Mit zwei großen Industriebaggern heben die Soldaten schwere Betonpfeiler und Geröllmassen zur Seite. „Mein Cousine liegt dort unten“, sagt Yan. Die 16-Jährige saß wie fast alle Schüler in der Nachbarschaft zum Zeitpunkt des Bebens im Unterricht.

Seit dem Unglück steht Yan von morgens bis abends hier, und blickt auf das Bild der Zerstörung: Zwischen roten Backsteinziegeln liegen umgedrehte Schulbänke, zerfledderte Bücher und Kleidungsstücke. Irgendwo ist ein einzelner rosa Sportschuh zu sehen.

Yan glaubt nicht mehr an ein Wunder. „Wir wollen nur noch Gewissheit. Deshalb warte ich hier, bis man ihren Leichnam gefunden hat“, sagt Yan. Der Tod hat hier, im Hinterland von Sichuan, ein hartes Antlitz. Aus Plastikplanen und Holzstämmen haben Helfer Zelte aufgebaut. Der Regen der vergangenen Tage hat den Boden aufgeweicht und in ein Matschfeld verwandelt. Die Zelte sind eine improvisierte Leichenhalle. Jedes Mal, wenn ein neues Opfer gefunden ist, öffnen die Polizisten die Absperrung und sechs Soldaten tragen im Laufschritt den Leichnam in eines der Zelte, wo er auf einem Brett oder einer Tür abgelegt wird. Angehörige, Nachbarn und Schaulustige laufen herbei, bilden eine dichte Traube um den am Boden liegenden Toten. Die Familien müssen die Leichen identifizieren; oft gelingt das nur schwer. Jetzt öffnet sich wieder die Absperrung. Die Soldaten tragen ein junges Mädchen heraus und legen es unter einer Zeltplane ab. Sofort strömen Eltern und Angehörige herbei. Der Kopf des Opfers wurde durch die einstürzenden Trümmer zerschmettert. Der Anblick ist so schlimm, dass eine Frau sich abwendet und sich auf den matschigen Boden übergibt.

Als am Nachmittag des 12. Mai die Erde bebte, waren 1800 Schüler in der Schule. Das halbe Gebäude stürzte in sich zusammen. „Es ging rasend schnell. In zwei Sekunden ist alles zusammengefallen“, sagt Zhang Yuhua. Die 57jährige arbeitete seit elf Jahren als Köchin in der Schule. Während des Bebens war sie in ihrer Wohnung, die direkt an das Schulgelände grenzt. Zhang rief den Notruf anzurufen, aber kam nicht durch. „Ich sah eine Schülerin, die von einem Betonpfeiler eingeklemmt war“, erzählt die Frau. Vergeblich versuchte sie dem Mädchen zu helfen, doch sie konnte die Steine nicht bewegen. „Als kurz darauf die ersten Helfer und Polizisten kamen, war das Mädchen bereits tot.“ Die Schule sei in den 80er Jahren gebaut, ein schmückloser, fünfstöckiger Bau mit einer Fassade aus weißen Kacheln, und Mitte der 90er Jahre erweitert worden, erzählen die Eltern der Schüler. Jetzt steht nur noch ein Flügel des Gebäudes. Das Treppenhaus ist durch die Zerstörung halbiert, die Treppen führen merkwürdig ins Nichts. Die Häuser in der Nachbarschaft, die ähnlich hoch gebaut sind, haben zum Teil Risse in den Fassaden. Ein Wasserturm aus Backstein, ein Stückchen die Straße hinauf, steht seit dem Beben in einer gefährlichen Schieflage.

Doch die Schule ist das einzige Gebäude in Juyuan, einer Stadt mit 20 000 Einwohnern, das bei dem Beben einstürzte. „Das war ein Tofu-Haus“, sagt Wu Jiefu. Der 52-Jährige ist der Onkel der 16-jährigen Nimang, die kurz zuvor von den Helfern aus den Trümmern gezogen wurde. Als „Tofu“-Bauten bezeichnen Chinesen minderwertige Häuser, bei denen zu wenig Beton verbaut wurde, und die wie wackliger Tofu in sich zusammenfallen. Oft ist Korruption im Spiel. Doch Wu, ein wortkarger Bauer mit dunklen Teint und schmalem Gesicht, will nicht anklagen. Auf den Boden gehockt verbrennt er in einem kleinen Feuer dünnes Papier. Es ist Opfergeld, das die Chinesen verbrennen, um es den Verstorbenen in die Totenwelt hinterherzuschicken. „Sie war eine gute Schülerin“, murmelt er.

Um die Verbreitung von Krankheiten und Seuchen zu verhindern, müssen die Toten in Sichuan rasch beerdigt werden. In Juyuan beginnen deshalb unmittelbar nach der Identifizierung der Opfer die Trauer- und Totenfeiern. „Mein Kind, mein Kind“, ruft eine weinende Mutter immer wieder und krümmt ihren Körper vor Schmerzen, während zwei Familienangehörige sie stützen. Die Männer der Familie beginnen, die Füße und den mit einem weißen Leichentuch bedeckten Körper mit Fäden aus Stroh zusammenzubinden – auch das ist Brauch. Dazwischen knallen immer wieder Feuerwerkskörper.

„Unser Haus ist auch zerstört", sagt Wu Xia, die Schwester von Nimang. Wie fast alle in dem Landkreis haust die Familie in einem notdürftig aus Plastikplanen und Holzstöcken aufgebauten Zelt. Viele Häuser sind zerstört.

Die noch stehen, gelten als gefährlich. Wasser und Lebensmittels seien knapp, sagt Wu. Doch Helfer verteilen Notrationen. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht. Immerhin hat der Regen aufgehört, so dass die fünfköpfige Familie zum ersten Mal ihre Kleider trocknen kann. „Wir sind einfache Bauern und leben von der Apfelernte. Jetzt haben wir alles verloren.“

Harald Maass[Juyuan]

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