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Kalinka war 14 Jahre alt, als sie in Deutschland starb.

© dpa

Frankreich: Der Fall Kalinka: Vater gegen Stiefvater

Ein Franzose hat den mutmaßlichen deutschen Mörder seiner Tochter nach Frankreich entführt – der steht jetzt dort vor Gericht. Der Angeklagte nennt immer neue Erklärungen für sein wirres Tun.

Zwei Wachbeamte helfen dem Angeklagten, seinen Stuhl hinter der Wand aus Panzerglas so zurechtzurücken, dass er ganz dicht an der Öffnung sitzt, durch die er mit seinem Anwalt kommunizieren kann. Umständlich nimmt der 75-jährige ehemalige Arzt Platz. Mit einer Hand stützt Dieter Krombach seinen Kopf hinter der linken Ohrmuschel, um besser zu verstehen, was der Zeuge sagt. Er ist Arzt, ein ehemaliger Berufskollege also des Angeklagten. Ihn hatte Krombach an dem Morgen vor rund 29 Jahren als Notarzt gerufen, als er seine Stieftochter Kalinka tot in ihrem Bett fand. Er hatte den Totenschein ausgestellt. Konzentriert folgt Krombach seinen Aussagen.

Gegenüber der Glasbox des Angeklagten sitzt ein anderer älterer Herr auf der Bank der Nebenkläger. Er macht sich eifrig Notizen. Wenn der Dolmetscher übersetzt, lehnt er sich zurück und setzt die Brille ab, wie um über das Gesagte nachzudenken. André Bamberski, zwei Jahre jünger als sein Gegenüber, ist der leibliche Vater Kalinkas. Er hält Krombach für den Mörder seiner Tochter. An ihrem Grab hatte er sich geschworen, nicht eher zu ruhen, bis ihr Tod gesühnt sei. Jetzt steht er kurz vor dem Ziel. Seit Dienstag dieser Woche muss sich Krombach vor dem Pariser Schwurgericht wegen Mordes an Kalinka verantworten.

Die Vernehmung des Zeugen hellt die Umstände des Todes Kalinkas nicht auf, aber sie wirft ein Licht auf die Nachlässigkeiten, die damals begangen wurden. An den Zeitpunkt des Todes kann er sich nicht mehr erinnern. Für die Todesursache habe er keine Erklärung. Er weiß auch nicht mehr, ob Kalinkas Körper mehr als einen Einstich von Injektionsnadeln aufwies. Spritzen hätten aber nicht herumgelegen. Auf die Frage, ob er davon überrascht gewesen sei, dass Krombach Wiederbelebungsversuche an der Toten vorgenommen habe, antwortet er, „ein verzweifelter Vater versucht eben alles“. Und als die Richterin mit vor Ungeduld lauter Stimme wissen will, warum er nicht die Polizei gerufen habe, sagte er, Krombach sei ein sehr angesehener Art gewesen, deshalb habe er das ihm überlassen.

Nach dieser Vernehmung wird klar, dass sich in diesem Prozess um den Tod eines Mädchens nicht nur Vater und Stiefvater gegenüberstehen, sondern auch zwei Justizsysteme. Das Pariser Schwurgericht will die Wahrheit über den Tod Kalinkas finden, eine Wahrheit, die zu suchen sich Richter in Deutschland nach Auffassung ihrer französischen Kollegen nicht ausreichend Mühe gegeben haben.

Im Sommer 1982 lebte Kalinka Bamberski bei ihrer Mutter Danielle und ihrem Stiefvater in Lindau am Bodensee. Krombach hatte Danielle Bamberski in den Ferien in Marokko kennengelernt, sich in sie verliebt und so lange um sie geworben, bis sie ihren Mann André in Toulouse verließ, nach Deutschland zog und in zweiter Ehe den verwitweten Krombach heiratete. An einem Freitagabend – es ist der 9. Juli – kommt Kalinka, eine gesunde, sportliche und lebensfrohe 14-Jährige, mit Kopfschmerzen aus dem Schwimmbad nach Hause. Krombach, von Beruf Kardiologe, spritzt ihr ein Eisenpräparat. Später verabreicht er ihr noch Kopfschmerztabletten. Um drei Uhr in der Nacht stirbt sie. Obwohl der Körper schon Leichenstarre aufweist, versucht Krombach am nächsten Morgen, das Mädchen mit Injektionen in Herz und Venen wieder zum Leben zu erwecken.

Die Gerichtsmediziner, die den Leichnam erst mit 60-stündiger Verspätung obduzieren können, wundern sich über die vielen Einstiche. Noch größer ist ihre Verwunderung über die medizinisch fragwürdigen Handlungen Krombachs. Eine eindeutige Todesursache können sie aber nicht feststellen. Im Genitalbereich der Leiche finden sie einen Einriss und Blutspuren, die jedoch nach ihrer Ansicht erst nach dem Tod entstanden seien. In den Vernehmungen, die folgen, wartet Krombach mit immer anderen Erklärungen für sein Handeln auf. Er habe Kalinka die Eisenlösung gespritzt, weil sie sich über die mangelnde sommerliche Bräunung ihrer Haut beschwerte. Ein anderes Mal führt er Blutarmut an. Schließlich nennt er Blutverluste infolge der beginnenden Periode Kalinkas an. Genauere Untersuchungen unterbleiben. Die Staatsanwaltschaft in Memmingen nimmt eine „vermutlich“ natürliche Todesursache an und stellt nach fünf Wochen die Ermittlungen gegen Krombach ein. Die Serie von Versäumnissen, die der deutschen Justiz unterlaufen, ist damit nicht vollständig wiedergegeben. Auf Betreiben Bamberskis, dem der Tod seiner Tochter keine Ruhe lässt, wird die Leiche 1983 exhumiert und erneut untersucht. Dabei stellen die Gerichtsmediziner fest, dass die Geschlechtsteile des Mädchens aus dem Körper entfernt worden waren. Sie seien spurlos verschwunden, hieß es. 1987 wird Bamerskis Klage vom Oberlandesgericht München abgewiesen. Sie sei in der Sache unbegründet.

Bamberski lässt das keine Ruhe. Er strengt ein Verfahren gegen Krombach in Frankreich an, wo dieser 1995 in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft und 350 000 Francs Schadenersatz verurteilt wird. Vollstreckt werden kann es nicht; denn eine Auslieferung Krombachs kommt nach deutschem Recht nicht infrage. 2009 findet Bamberski einen gewaltsamen Weg, sich Recht zu verschaffen. Ein Entführungskommando schlägt in seinem Auftrag Krombach vor seinem Haus zusammen, verschleppt ihn nach Frankreich und legt ihn als gefesseltes Bündel in der Nähe des Justizpalastes von Mühlhausen im Elsass ab. Krombach ist seitdem in den Händen der französischen Justiz.

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