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Gesundheit: „Algebra ist fantastisch“

Die Pädagogin Christine Keitel über die guten Leistungen deutscher Grundschüler in Mathematik und den Naturwissenschaften

Frau Keitel, die Ergebnisse der IgluStudie werden zwar erst am Dienstag offiziell veröffentlicht, aber schon jetzt wurde bekannt, dass die deutschen Viertklässler nicht nur im Lesen, sondern auch in Mathematik und den Naturwissenschaften überdurchschnittlich abschneiden. Überrascht Sie das?

Nicht sehr. Die Grundschule als die einzige Schule für alle ist die modernste aller unserer Schulformen, sie ist in den vergangenen Jahrzehnten am besten reformiert worden. Hier setzen die Lehrerinnen und Lehrer vielfältige Methoden ein, die mehr als in jeder anderen Schule dem Lerner angepasst sind. Dabei hat die Grundschule davon profitiert, dass die Kollegien ein bisschen jünger und innovativer sind als anderswo.

Viele Lehrerverbände und Wissenschaftler schreiben den Erfolg der Grundschule auch der Tatsache zu, dass ihre Lehrer mit heterogenen Gruppen umzugehen verstehen.

Ja, wenn die Lehrer gut mit dieser Situation umgehen können, profitiert der Unterricht davon, wenn schnelle und langsamere Lerner gemeinsam unterrichtet werden. In einer heterogenen Gruppe können beide voneinander lernen: Während die guten Schüler ihren Mitschülern Lösungswege erklären, lernen sie selbst dazu. Leistungsstarke fordern nicht nur die schwächeren heraus, sie bieten manchmal auch andere, originellere Sichtweisen als die Lehrerinnen. Wenn die Schüler in Gruppen arbeiten, hat die Lehrerin auch die Zeit, selbst einzelne Schüler zu beraten.

Im Vorfeld haben einige Wissenschaftler befürchtet, die deutschen Viertklässler könnten in den Naturwissenschaften schlechter abschneiden als im Lesen. Ein Großteil des Sachkundeunterrichts sei nämlich gar nicht naturwissenschaftlich, sondern gesellschaftswissenschaftlich ausgerichtet. Woher kommen dann jetzt die guten Leistungen?

Der Sachkundeunterricht ist sehr interdisziplinär ausgerichtet. Es gibt Experimente oder Projekte, die einen sozialwissenschaftlichen und einen naturwissenschaftlichen Bezug haben, man denke nur an die Themen Umweltschutz oder Gesundheit. Das hilft, das Interesse bei den Schülern vor allem auch für naturwissenschaftliche Aspekte zu wecken. Besonders Mädchen wollen immer wissen, warum sie etwas lernen oder tun sollen, nicht nur wie. Die Probleme beginnen in der Oberschule, wenn in Physik oder Chemie die gesellschaftlichen Zusammenhänge ignoriert werden.

Pisa und Timss haben gezeigt, dass deutsche Oberschüler kaum in der Lage sind, mathematische Lösungswege jenseits vorgegebener Schemata zu finden. Warum klappt das bei Grundschülern besser?

Inzwischen machen viele Lehrer in der Grundschule weit mehr, als das Einmaleins auswendig lernen zu lassen. Sie bieten auch Lernspiele an, in denen die Schüler verschiedene Lösungswege und Strategien erproben können. Später wird dann darüber diskutiert, welcher Lösungsweg für welchen Zweck besonders sinnvoll ist, welche Zusammenhänge sich ergeben. Dann muss ich das Einmaleins oder andere Algorithmen vielleicht gar nicht mehr auswendig lernen, weil ich sie mir auch so erschließen kann. Der Mathematikunterricht ist heute viel sprachlicher geworden. Es geht darum, zu begründen. Warum gehe ich bei einer Aufgabe so vor? Gibt es Alternativen? Auch davon profitieren besonders die Mädchen.

Warum nimmt das Interesse dann in der Oberschule bei allen Schülern so stark ab?

Die Sekundarstufe I ist vielleicht die „finstere“ Phase in der Biographie vieler Schüler, gerade am Gymnasium. Eigentlich stellt Algebra fantastische Instrumente und überzeugend einfache Strukturen bereit, aber man langweilt die Schüler mit „Termumformungsplantagen“, für die nicht klar ist, welchen Sinn sie haben. Das Abstrakte müsste begründet und konkretisiert werden.

Was können Eltern tun, um das Interesse ihrer Kinder und gerade ihrer Töchter an Naturwissenschaften und Mathematik zu wecken?

Aus meiner Erfahrung als Mutter möchte ich sagen: Experimentieren und spielen. Rausgehen, selbst Wasser am Kanal schöpfen und unterm Mikroskop studieren, abzeichnen. Sachbücher wie „Was ist Was“ sind gut, es gibt auch herrliche Spiele, bei denen man strategisch denken muss. Die Eltern sollten mit den Kindern „forschen“.

Christine Keitel ist Professorin für den Lernbereich Mathematik Grundschule an der FU.

Das Gespräch führte Anja Kühne

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