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Alkoholismus: Immer nur geschluckt

Stress im Job und Alkohol als Problemlöser – immer mehr Menschen geraten in die fatale Abhängigkeit. Ein Berliner erzählt, wie er gegen seine Sucht kämpft

Von Sandra Dassler

Irgendwann fragte ihn sein Jobvermittler: „Würden Sie auch mit Alkoholikern arbeiten?“ Er hat genickt und die Stelle bekommen. Auf den Schreck musste er im Treppenhaus erst mal einen kräftigen Schluck nehmen: Weinbrand aus dem Flachmann. Den trug er immer bei sich.

Das muss so 1995 gewesen sein. Dass Peter Werner* damals schon ein massives Problem hatte, kam ihm nicht in den Sinn. „Da war ich längst Alkoholiker“, sagt er heute. Damals hätte er sich niemals eingestanden, dass er zu den anderthalb Millionen Deutschen gehört, die alkoholkrank sind. Hinzu kommen rund zehn Millionen Bundesbürger, die Alkohol in gesundheitlich riskanter Weise zu sich nehmen.

Die Grenzen von Missbrauch, Sucht und Krankheit sind oft fließend – aber Peter Werner weiß nur zu gut, was Alkoholsucht bedeutet: „Es ist das zwanghafte Bedürfnis zu trinken“, sagt er: „Man trinkt, weil man einen körperlichen Schmerz empfindet, wenn man es nicht tut. Man trinkt weiter, obwohl man weiß, dass es negative Folgen hat. Und man trinkt, um die Entzugserscheinungen zu überwinden.“ 1995 trinkt er bereits täglich vier bis fünf 0,1-Literflaschen Weinbrand, manchmal auch sieben oder acht. Er liegt nicht unter der Brücke, hat eine akademische Ausbildung, Arbeit, Frau und Kinder. Alles im Griff. Denkt er. Einer wie du und ich. Bis auf den Weinbrand. Und bis auf die Tatsache, dass sich die Sucht nahezu unbemerkt in seinen Alltag geschlichen hat. Wie bei so vielen.

Mag sein, dass der Grundstein für die spätere Alkoholsucht schon in der Kindheit gelegt wurde. Die Eltern von Peter Werner tranken nicht exzessiv, aber immer dann, wenn ein Tag besonders anstrengend gewesen war oder wenn der Vater geschafft von einer Dienstreise zurückkehrte. Als der Junge 14 oder 15 Jahre alt war, durfte er selbstverständlich mittrinken. „Damit will ich nichts entschuldigen“, sagt er. „Für mein Leben bin ich selbst verantwortlich.“ Wichtig ist nur der Mechanismus: Peter Werner hat bereits als ganz junger Mensch Alkohol als bewährtes Stressbewältigungsmittel kennengelernt.

Ansonsten spielt der Alkohol im Leben des heute 58-Jährigen zunächst keine große Rolle. Er wird Agraringenieur, schlägt dann eine pädagogische Laufbahn ein und arbeitet in der Erwachsenenqualifizierung. Er trinkt Alkohol vor allem bei Feiern. „Wenn ich Stress im Beruf hatte, griff ich manchmal auch nach der Arbeit zur Flasche“, erzählt er. „Aber ich konnte immer nach zwei, drei Gläsern aufhören.“

1990 wechselt Werner aus dem öffentlichen Dienst in eine kleine private Firma. Der Job reizt ihn, aber der damit verbundene Stress macht ihn kaputt: „Ich war immer ein Perfektionist und arbeitete hart. Jetzt trieb ich es auf die Spitze – 14, 15 Stunden am Tag waren die Regel. Um das durchzuhalten, um abends einschlafen zu können, begann ich regelmäßig zu trinken.“

Die Firma geht pleite. Werner versucht sich in mehreren Jobs, ist zwischendurch arbeitslos und beginnt 1995 in einer Wohngemeinschaft für „nasse“ Alkoholiker. Die sind zu diesem Zeitpunkt fast alle am Ende der Trinkerkarriere angekommen, viele können sich nicht einmal mehr sauber halten. „Wenn ich mal wieder einen von ihnen buchstäblich aus der Sch... holte, sagte ich mir immer: ,So bin ich ja nicht‘“, erzählt Peter Werner. „Obwohl ich damals bereits eine große Flasche Weinbrand trank – über den Tag verteilt, so dass es nicht auffiel.“

Aufgefallen war es längst. Mit seiner Frau, sagt er, gab es kaum noch ein Eheleben. Immer wieder fand sie versteckte leere oder volle Flachmänner. Immer öfter bat sie ihren Mann, aufzuhören. Auch Vorgesetzte sagten hin und wieder: „Du scheinst ein Problem zu haben. Aber du wirst das schon in den Griff bekommen, bist ja ein intelligenter Mensch.“

Doch Alkoholsucht hat nichts mit Intelligenz zu tun. Peter Werner konnte nicht mehr aufhören: Er musste nachts aufstehen, um „nachzuladen“. Wenn er Auto fuhr und die Polizei sah, begann er fieberhaft zu rechnen, wie viel er gerade intus hatte. Wenn ihm morgens so schlecht war, dass er keinen Weinbrand trinken konnte, kochte er sich Tee und schluckte Magenbitter mit dem einzigen Ziel, schnell wieder etwas „Richtiges“, sprich Hochprozentiges aufnehmen zu können. Im Frühjahr 1997 brach er zusammen: Ärzte diagnostizierten eine akute Bauchspeicheldrüsenentzündung aufgrund jahrelangen Alkoholkonsums.

In der Behandlungsstatistik der Kliniken stehen „alkoholbedingte Störungen“ bei Männern über 40 weit vor dem Herzinfarkt an erster Stelle, sagt Kerstin Jüngling, Leiterin der Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin. Alkoholbedingte Störungen sind Erkrankungen von Magen, Leber oder Speiseröhre, körperliche Abhängigkeitssyndrome sowie durch Alkohol verursachte Arbeits- und Verkehrsunfälle.

Die Fachstelle für Suchtprävention gibt es seit 2005, bis dahin arbeiteten viele kleine Projekte parallel zueinander. Die Fachstelle koordiniert erfolgreich deren Arbeit, sucht nach Partnern für die Prävention und schult jene, die mit Alkoholsucht konfrontiert sind. So fragen Firmen immer öfter nach Beratung. „Früher waren es die Bauarbeiter, die mal mit einer Bierflasche in der Hand auf der Straße gesehen wurden“, sagt Kerstin Jüngling. „Heute laufen auch Männer im Anzug damit rum. Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken, ist völlig normal. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Berlin als die große Partystadt gilt. Wir sind ja so hip – aber zu den Partys gehört auch der Kater danach.“

„Unabhängig bleiben“ ist das Motto der Suchtprävention. Wieder unabhängig zu werden, war der einzige Wunsch von Peter Werner nach seinem Zusammenbruch. „Ich wusste, wenn ich weiter trinke, bin ich bald tot“, sagt er. Und trotzdem habe es lange gedauert, bis er trocken wurde. Am meisten hätten ihm die Gespräche in der Selbsthilfegruppe geholfen, weil die Leute dort wüssten, worauf es ankommt: Das körperliche Verlangen, der Schmerz im Oberbauch, ist nur eine Seite. Um auf Dauer trocken zu sein, muss auch im Unterbewusstsein einiges geschehen. Fachleute sprechen vom „Setting“, der Stimmung und Umgebung bei Einnahme einer Droge. So kann durch bestimmte Situationen das Suchtgedächtnis aktiviert werden. Viele trinken, um sich für etwas zu belohnen – andere, um Probleme zu verdrängen.

Alkoholiker kämpfen das ganze Leben lang darum, trocken zu bleiben. Und viele verlieren den Kampf. Peter Werner wurde zwei Mal rückfällig, weil er inStresssituationen wie gewohnt zur Flasche griff. Als der dritte Rückfall drohte, stand er mit dem Auto nach einem harten Arbeitstag an einer Kreuzung. Links ging es nach Hause, wo sich kein Alkohol befand. Rechts zur Tankstelle, wo die „schnelle Lösung aller Probleme“ im Regal stand. „Aber ich wusste, ich überlebe es nicht, wenn ich wieder anfange“, sagt er. „Und da habe ich mir gesagt, ich versuche jetzt einfach mal die Situation zu ertragen, den Stress, den ich hatte oder den ich mir gemacht hatte.“

Peter Werner hat die Kurve gekriegt. Er blinkte und bog nach links ab. Das war 2001. Bis heute ist er trocken.


*Name von der Redaktion geändert

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