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Gesundheit: Altern im Zeitraffer

Ein seltener Gendefekt macht Kinder frühzeitig zu Greisen. Jetzt steht fest: Progerie kann auch vererbt werden

Der Eingang zum Hansa-Hotel in Magdeburg rotiert. Schließlich ist eine Drehtür ein tolles Spielzeug. Kichernd und unermüdlich schieben Sarah und Mégane die Glastür im Kreis. Besucher müssen warten, bis die beiden Kinder sie passieren lassen. Aber kein Portier verscheucht sie, niemand wagt die „ungezogenen“ Kinder zu ermahnen. Über der alltäglichen Szene liegt offenbar ein Tabu, denn hier scheinen nicht zwei Mädchen von zehn und sechs Jahren zu spielen, sondern zwei Greise. Das kindliche Kichern kommt aus mageren Gesichtern voller Falten, das übermütige Hüpfen bewerkstelligen geschwollene Gelenke an dünnen Beinchen. Die fröhlichen Kinderaugen stehen aus kahlen Köpfen hervor, auf der papierdünnen Haut sind Altersflecken zu sehen. Sarah und Mégane leiden an einer extrem seltenen Krankheit, die das Altern rasend zu beschleunigen scheint: Progerie.

Schätzungsweise 50 Progerie-Kinder gibt es auf der ganzen Welt, etwa 22 in ganz Europa. 15 betroffene Familien sind der Einladung des Kinderarztes und Progerie-Experten Thomas Brune nach Magdeburg gefolgt. Gemeinsam mit Elke Piper-Fietz, der Gründerin des Selbsthilfevereins Progeria Family Circle, hat der Oberarzt der Uniklinik Magdeburg das erste Europäische Progerie-Symposium organisiert.

„Wir wollen eine Zusammenarbeit all derer erreichen, die in Europa an Progerie arbeiten“, sagt Brune und hat eine europäische Stiftung vor Augen, die die Progerie-Forschung fördern soll.

Lange rätselten Forscher, was die Ursache der galoppierenden Vergreisung sein könnte. Alternsforscher hofften, durch die Aufklärung der genetischen Ursache der Progerie auch den normalen Alterungsmechanismus verstehen und vielleicht kontrollieren zu können. „Progerie ist nicht einfach beschleunigtes Altern“, sagt Brune. Die Krankheit sei dem Alternsprozess bestenfalls ähnlich. Tatsächlich haben Progerie-Patienten weder mit Alzheimer noch mit Krebs Probleme. Seit April nun ist das Gen bekannt, dessen Mutation das Syndrom auslöst, das auch Hutchinson-Gilford-Progerie genannt wird. Es herrscht Aufbruchstimmung

Es beginnt mit einem winzigen Fehler im Erbgut des Spermiums, das die Entwicklung des Embryos anstößt (siehe Kasten). Obwohl äußerlich gesund, steht jetzt schon fest, dass das Kind fünf bis zehn mal schneller altern wird als üblich: Denn die Kerne der Zellen von Progerie-Kindern sind nicht für die Belastungen des Lebens gebaut. Eine Genmutation schwächt deren stützendes Gerüst. „Etwa die Hälfte der Zellkerne von Progerie-Patienten verlieren ihre Form“, sagt Nicolas Lévy von der Faculté de Médecine de la Timone in Marseille, der als erster die genetische Ursache der Progerie entdeckte. „Wir haben sogar Löcher beobachtet, aus denen die DNS aus dem Zellkern austritt.“ Brunes Kollege Thorsten Marquardt von der Universitätskinderklinik in Münster konnte auf dem Symposium sogar schon ein zweites Gen vorstellen, dessen Mutation Progerie auslöst. Auch dieser Defekt stört die Stabilität des Zellkerns. Lévy und Marquardt vermuten, dass in den Blutgefäßen, der Muskulatur oder auch den Gelenken, in denen die Zellen starken mechanischen Belastungen ausgesetzt sind, aufgrund der Mutationen mehr Zellen als üblich absterben. Damit werde Gefäßerkrankungen und Schlaganfällen, Knochenschwund und Gelenkentzündungen frühzeitig der Weg geebnet.

Während sich die Forscher im Konferenzraum über molekularbiologische Details austauschen, toben auf dem Gang die Fallbeispiele herum. Die Drehtür schwingt, und zögernd kommt ein Vater mit seinem Baby auf dem Arm ins Foyer. Sarah und Mégane rennen an ihm vorbei, der Vater bleibt stehen, und sieht, was seinem Kind bevorsteht. „Für die Eltern, die das erste Mal dabei sind, ist es eine Konfrontation mit dem Unvermeidlichen“, sagt die gelernte Krankenschwester Elke Piper-Fietz. „Aber dazu sind wir ja hier, dass wir als Gruppe den Eltern bei all ihren Fragen helfen.“ Wie lassen sich die Schmerzen lindern? Kann mein Kind zur Schule? Wie kann ich es vor den Gaffern schützen? Wie viel kann, wie viel muss ich meinem Kind erzählen?

Ob es bald eine Therapie gegen Progerie geben wird, das werden die Eltern wohl nicht fragen. So fragen nur die unzähligen Journalisten. „Wir stehen ganz am Anfang“, sagt Brune wortkarg auf der Pressekonferenz. Sicher gäbe es Ideen, aber mehr auch nicht. „Immerhin haben wir jetzt ein Testsystem“, kommentiert der Genforscher Francis Collins. Kurz nach Lévy wurde auch in seinem Labor am Nationalen Humangenom-Forschungsinstitut der USA in Bethesda die Progerie-auslösende Mutation bei 18 Patienten entdeckt. „An Zellkulturen aus dem Blut der Progerie-Patienten können jetzt im großen Stil Wirkstoffe getestet werden“, sagt Collins. Er hofft, ein Molekül zu finden, dass den Zerfall der Zellkerne aufhalten könnte. Vorausgesetzt, dass dafür genug Geld zur Verfügung steht. Auch deshalb lassen Veranstalter, Eltern und Kinder den Medienrummel stoisch über sich ergehen.

Vielleicht ist es nicht die Freak-Show, die die Öffentlichkeit so sehr an der Progerie interessiert. Marjet Stamssnijder, deren Sohn Ben 1993 mit 13 Jahren an der Krankheit starb, glaubt, dass Progerie-Kinder die Menschen mit dem Sterben konfrontieren. „Der Tod ist nicht mehr länger eine weit entfernte Möglichkeit, sondern ständige Realität.“ Auf die Frage, wann es denn sterben würde, antwortete eines der Progerie-Kinder: „Und wann stirbst du?“

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