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Gesundheit: An die Patienten denken

Was getan werden muss, um Kranke besser zu versorgen, untersuchte ein Kongress in Berlin

Was passiert mit den Patienten, wenn Kliniken als Wirtschaftsunternehmen geführt werden müssen? Wie beeinflussen die ständigen „Gesundheitsreformen“ die Arbeitszufriedenheit von Ärzten und Pflegekräften und wie wirkt sich dies auf die Qualität der Krankenversorgung aus? Das sind nur einige der Fragen, die sich in einem sehr praxisnahen Forschungsfeld stellen: der Versorgungsforschung.

„Die Zukunft der Gesundheitsversorgung in Deutschland“ lautete das Thema des am Wochenende in der Charité beendeten 4. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung. Während die klinische Forschung Untersuchungs- und Behandlungsverfahren entwickelt und unter idealen Studienbedingungen erprobt, will die Versorgungsforschung herausfinden, was davon eigentlich den Patienten unter Alltagsbedingungen zugute kommt und wie sich ihre Versorgung verbessern lässt. Sie analysiert die Bedarfsgerechtigkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Den Rückstand Deutschlands auf diesem Gebiet versucht man jetzt mit vereinten Kräften aufzuholen: Die Bundesärztekammer fördert die Versorgungsforschung aktiv, ihre erste Ausschreibung begann soeben.

Der Kongress wurde von 32 medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Fachgesellschaften getragen. Selbst so klassische medizinische Fächer wie Chirurgie, Gynäkologie oder Orthopädie waren dabei. Offenbar beginnen alle zu begreifen, dass dem Gesundheitswesen das Wasser bis zum Halse steht, weil durch die gestiegene Lebenserwartung und durch neue medizinische Möglichkeiten der Behandlungsbedarf enorm zunimmt – bei ständig knapper werdenden Mitteln. Und auch dies zeigte der Kongress: Es wächst die Einsicht, dass Reformversuche ohne solide wissenschaftliche Grundlage nichts als blinder Aktionismus und heillose Kurpfuscherei sind.

Wie kann auch künftig eine bedarfsgerechte Gesundheitsvorsorge gesichert werden?, fragte Kongresspräsidentin Ulrike Maschewsky-Schneider. Viele unserer heutigen Versorgungsprobleme samt Lösungsversuchen sind gar nicht so neu. Schon 1905 – als es den Begriff noch gar nicht gab – hatten Mediziner erkannt, dass die Versorgungsforschung sich nur in Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen beackern lässt.

Der Berliner Medizinhistoriker Udo Schagen erinnerte daran, dass sich damals, in einer Zeit größter sozialer Probleme durch explosives Wachstum der Städte, Ärzte gemeinsam mit Wissenschaftlern verschiedener Fächer und mit Politikern zusammenschlossen, zunächst zu einem Verein. Dessen Tätigkeit sollte sich zwischen Medizin und Volkswirtschaft bewegen, und als Brücke sollte die Sozialmedizin dienen. Die Versorgungsforschung hat, so Schagen, heute nur dann die Chance, sich akademisch fest zu etablieren, wenn sie die Ergebnisse der dominierenden biomedizinischen Forschung aufnimmt, aber um den wissenschaftlichen Blick auf die sozialen Faktoren von Gesundheit und Krankheit ergänzt.

Die Verwissenschaftlichung von Bereichen, die bislang weitgehend von Erfahrung geprägt waren, hat den Bedarf an Beratung durch Experten enorm gesteigert, beobachtet der Sozialmediziner und Versorgungsforscher Friedrich Wilhelm Schwartz. Die Politik folgt ihren Vorschlägen auch teilweise, wie etwa denen des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“, dem Schwartz lange angehörte. Nach seiner Einschätzung prägen aber industrie- und wirtschaftsnahe Einrichtungen das Gesundheitswesen mehr als die Wissenschaft.

Zu einer evidenzbasierten (also wissenschaftlich fundierten) Gesundheitspolitik bekannte sich Berlins Gesundheits-Staatssekretär Hermann Schulte-Sasse – in Analogie zur evidenzbasierten Medizin. Er wünscht sich einen intensiveren Austausch zwischen der Politik und einer Wissenschaft, die weder im Elfenbeinturm sitzt noch sich der Politik in unangemessener Weise nähert. Jahrzehntelang hatten sich auch führende Gesundheitswissenschaftler der Industrie in unangemessener Weise genähert – ausgerechnet der Zigarettenindustrie.

Wie deren gesundheitsschädliche Produkte in von ihr verdeckt finanzierten Studien verharmlost wurden, hat der Berliner Gesundheitswissenschaftler Dietmar Jazbinsek in einem Bericht ans Heidelberger WHO-Zentrum für Tabakkontrolle detailliert nachgewiesen. Da Versorgungsforschung sehr häufig interessengefährdete Auftragsforschung ist, diskutierten auf diesem Kongress die Gesellschaften für Sozialmedizin und für Medizinsoziologie über das aktuelle Problem der wissenschaftlichen Unabhängigkeit. Um sie zu gewährleisten, wurde ein Kodex „Gute Praxis Drittmittelforschung im Gesundheitswesen“ entworfen. Dann will man andere Fachgesellschaften aufrufen, sich anzuschließen. Ob er mehr nützen wird als ähnliche Selbstverpflichtungen?

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