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Loch im Herzen. Jonas mit seiner Mutter und Oberarzt Georg Schwabe.

© Thilo Rückeis

Angeborene Fehlbildungen: Kindheit mit Komplex

Drei Prozent aller Neugeborenen kommen mit einer organischen Störung zur Welt. Bei ihrer Behandlung müssen oft mehrere Fachärzte zusammenarbeiten. Am Helios-Klinikum Buch wurde dazu das Zentrum für angeborene Fehlbildungen eingerichtet. Auch der vierjährige Jonas ist hier oft zu Besuch.

Jonas legt seinen Stoffhasen Mümmel ins Krankenhausbett und breitet die Bettdecke über ihn aus. Der Vierjährige ist das Ritual an diesem Ort gewohnt – viele Wochen seines jungen Lebens hat er in der Klinik verbracht, er hat bereits mehrere Operationen hinter sich. Auch als seine Mutter am Schreibtisch von Oberarzt Georg Schwabe Platz nimmt und sich Röntgenaufnahmen ihres Sohnes ansieht, spielt Jonas brav weiter auf dem Boden mit Bauklötzen und Autos. Seine Mutter Karin Sommer, 39, fährt mit ihm alle drei Monate aus dem mit dem Auto etwa zehn Minuten entfernten Panketal hierher ins Helios-Klinikum Buch.

Jonas hat eine sogenannte Vacterl-Assoziation, einen Komplex aus angeborenen Fehlbildungen, zu denen etwa Fehlbildungen des Herzens, der Wirbelsäule und der Niere gehören können. Außerdem ist er ohne Darmausgang zur Welt gekommen. Behandelt wird er im Zentrum für angeborene Fehlbildungen von Helios in Buch. Georg Schwabe ist Oberarzt und Koordinator des Zentrums, das seit April in der Klinik eingerichtet ist. Bereits vorher existierten hier die verschiedenen Fachabteilungen wie Kinderchirurgie, Neurochirurgie und Kinderorthopädie, die oft zur Behandlung von einem Komplex an angeborenen Fehlbildungen zusammenarbeiten. Neu ist jetzt, dass sie durch das Fehlbildungszentrum koordiniert werden. Gemeinsam mit dem angegliederten Sozialpädiatrischen Zentrum begleiten die Mitarbeiter betroffene Familien von der Diagnostik über die Therapie bis zur Nachsorge und fördern den Austausch zwischen den Abteilungen sowie niedergelassenen Ärzten.

In Deutschland gibt es nur zwei Zentren für angeborene Fehlbildungen

Georg Schwabe nennt es das „Alles-unter-einem-Dach-Konzept“. Seine wöchentliche Sprechstunde ist bis Oktober ausgebucht. Bundesweit gibt es nur zwei derartige Zentren für angeborene Fehlbildungen. Auch Patienten aus dem Ausland werden in Buch behandelt. Etwa drei Prozent aller Neugeborenen kommen mit einer Fehlbildung auf die Welt, in Deutschland betrifft das rund 20 000 Kinder pro Jahr. Bei jedem fünften handelt es sich um einen schweren Fall. Am Zentrum in Buch sind die behandelnden Ärzte vertraut mit den Fehlbildungen, die wie bei der Vacterl-Assoziation oft in Komplexen auftreten. Gibt es eine Fehlbildung am Ohr, sollte man etwa auch die Niere überprüfen. „Das ist wie bei einem Puzzle“, erklärt Schwabe. Je mehr Bausteine man hat, desto besser kann man das Gesamtbild erkennen. Hat man es wie Schwabe schon oft gesehen, ist auch das Puzzle schneller gelöst.

Jonas kommt an den Tisch des Arztes und zieht stolz sein T-Shirt mit dem Dinosaurier nach oben. Er zeigt sie gerne, seine „Piratennarbe“. So nennt seine Familie die Narbe an seinem Bauch. Jonas bekam dort an seinem zweiten Lebenstag einen künstlichen Darmausgang. Die ersten vier Wochen verbrachte er im Krankenhaus. Als er sechs Monate alt war, schafften die Ärzte ihm in einer weiteren OP einen Anus. Drei Monate danach verlegten sie den Darm dorthin zurück, wo vorher kein Ausgang gewesen war.

Wann die Familien mit ihren Kindern in das Zentrum für angeborene Fehlbildungen kommen, ist unterschiedlich. Manchmal fällt die Fehlbildung schon im Mutterleib auf, manchmal erst bei einer späteren ärztlichen Untersuchung. Am häufigsten sind angeborene Fehlbildungen des Zentralnervensystems, also von Hirn und Rückenmark. Danach folgen Herz, Niere und Skelett. Die Gründe dafür sind oft unklar, wie bei Jonas. Manchmal gibt es genetische Ursachen, manchmal sind auch Umwelteinflüsse für die Fehlbildungen verantwortlich.

Die Niere von Jonas war mit Zysten durchsetzt

Loch im Herzen. Jonas mit seiner Mutter und Oberarzt Georg Schwabe.

© Thilo Rückeis

„Frau Sommer, mit Ihrem Baby ist etwas nicht in Ordnung.“ An diese Worte, die sie in der 22. Schwangerschaftswoche bei der Feindiagnostik zu hören bekam, erinnert sich Karin Sommer noch genau. Die Untersuchung fand wegen der Nähe zu ihrem Wohnort bereits im Helios-Klinikum statt. Ihr Mann hatte sich ebenfalls frei genommen. Sie freuten sich auf den Termin und auf eine Bestätigung, dass alles gut sein würde, wie schon bei ihrem neunjährigen ersten Sohn ein paar Jahre zuvor. Doch dann kam die Nachricht: Eine Niere von Jonas war polyzystisch, das heißt von Zysten durchsetzt, er hatte einen erweiterten Darm – möglicher Hinweis auf Analatresie, also fehlenden Darmausgang. Außerdem hatte Jonas ein kleines Loch im Herzen. Bis zur Geburt war nicht klar, wie es dem Baby gehen würde. Karin Sommer weinte viel in dieser Zeit. „Man fragt sich: Was hat man da im Bauch?“, sagt sie heute. Doch dass sie Jonas auf die Welt bringen wollte, daran hatte sie keinen Zweifel.

Jonas lacht und drückt auf die Pumpe seines „Bowel Managements“ auf der Liege neben dem Schreibtisch. Er hat keine Berührungsängste – auch wenn die Prozedur nicht angenehm ist. Da ohne den natürlichen Darmausgang auch die Schließmuskeln kaum vorhanden sind, muss Jonas mithilfe seiner Eltern den Darm täglich spülen. Gerade berät sich seine Mutter mit Ärzten des Zentrums über die Möglichkeit eines Beckenbodentrainings, damit Jonas die Kontrolle über seinen Darm verbessern kann.

Heute geht es Jonas gut, er geht in die Kita

Oft ist es schwierig, bei einem Komplex an Fehlbildungen die Erkrankung zu diagnostizieren. Dennoch steigt der Anteil diagnostizierter Fälle durch die Verbesserung genetischer Untersuchungen und bildgebender Verfahren wie Radiologie, Ultraschall oder MRT. „Für viele Eltern ist es eine Erleichterung, wenn man der Sache einen Namen geben kann“, sagt Georg Schwabe. Doch die Diagnose kann bei ganzen Komplexen an Fehlbildungen auch zu einem schwierigen Prozess für die Familien werden. Für Georg Schwabe kommt es dann auf darauf an, ihnen ein wenig Zeit zu lassen. „Es bietet sich an, dass man die Diagnostik stufenweise macht, damit es nicht zu viel Belastung auf einmal ist.“ Das kleine Loch in Jonas’ Herz ist inzwischen zusammengewachsen, die polyzystische Niere ist weggeschrumpft. Jonas kann auch mit einer Niere leben, doch ihr Abfluss wird im Bucher Zentrum regelmäßig bis zum 14. Lebensjahr untersucht. Danach können die Ärzte hoffentlich Entwarnung für die funktionierende Niere geben. Außerdem trägt Jonas jede Nacht eine Schiene am Unterarm, da seine Speiche leicht verbogen ist – auch Fehlbildungen der Extremitäten sind ein Faktor bei der Vacterl-Assoziation.

Noch hat Jonas leichte Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung. Deshalb war er heute schon beim Logopäden, um sprachliche Fähigkeiten zu üben. Die Verzögerung erklären die Ärzte mit den vielen Anstrengungen und Krankenhausaufenthalten seines jungen Lebens. Sie sind kein Anlass zur Sorge. Jonas entwickelt sich gut, er geht jetzt in die Kita. Dennoch tut die Begleitung gut, die die Familie durch das Sozialpädiatrische Zentrum bis zu Jonas’ 18. Lebensjahr erhält, wenn sie möchte. Zum Abschied präsentiert Jonas noch einmal stolz seine Piratennarbe.

Die Namen des Patienten und seiner Mutter wurden geändert.

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