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Gesundheit: Antrag

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt Universität

Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass in unserer Gesellschaft ohne Antrag gar nichts mehr geht. Zwar sind die finster dreinblickenden Herren in dunkelbraunen Anzügen verschwunden, bei denen man einen „Antrag auf Erteilung eines Berechtigungsscheins zum Empfang eines Visums zur Einreise in die DDR“ abgeben konnte und die einem nach einigen Tagen Bearbeitungszeit den Antrag zurückgaben, weil der Name falsch geschrieben war. Auch wenn diese Herren und der Staat, dem sie dienten, sich glücklicherweise in Luft aufgelöst haben, bekommt man in vielen Behörden dieser Stadt nicht einmal einen Bleistift ohne Antrag.

Das ganze Wissenschaftssystem, in dem man früher einfach vorab großzügige Zusagen erhielt, von denen man nicht nur Bleistifte kaufen, sondern auch Personal einstellen und Großgeräte aufstellen konnte, ist weitgehend auf Anträge umgestellt worden. Ohne einen Antrag gibt es fast nichts mehr. Und längst gibt es in einigen Universitäten Menschen, die nichts anderes zu tun haben, als anderen beim Verfassen von erfolgreichen Anträgen zu helfen: Anträgen auf die Bestellung von Bleistiften, Anträgen auf Sachbeihilfen, Anträgen auf Sonderforschungsbereiche, Anträgen auf die Errichtung von Laborgebäuden.

Vor hundertfünfzig Jahren war das noch ziemlich anders. Die Gebrüder Grimm vermerken in ihrem Wörterbuch, dass das Wort „Antrag“ ein „heute gangbares, in der älteren sprache selten erscheinendes wort“ sei; sonderlich gemocht scheinen sie es also nicht zu haben. Nun muss ja mindestens Wilhelm seiner Henrietta Dorothea Wild vor der Hochzeit 1825 einen Antrag gemacht haben, aber es fällt schon auf, dass im entsprechenden Artikel das Lemma „einem Mädchen Anträge machen“ ergänzt wird mit „meist im schlimmen sinn“ und ein anderer Beleg auch nicht sehr viel optimistischer klingt: „Soll dies ein Antrag sein“? Wahrscheinlich stammt der einschlägige Artikel also vom zeitlebens unverheirateten Jacob. Vielleicht hat aber auch Wilhelms Frau Beiträge geleistet; eine Freundin schreibt über Dortchen Grimm: „Hatte es aber nicht leicht, den verschiedenen Gliedern (der Familie), die eigentlich alle Despoten waren, zu dienen“.

„Was lernt uns das?“, pflegte ein hoher Vertreter jenes Staates zu fragen, der die Menschen mit den braunen Anzügen in den Westteil Berlins schickte. Es lehrt uns zum einen, dass man mit Anträgen vorsichtig sein sollte. Schließlich könnten sie abgelehnt werden. Und zum anderen lernen wir, dass wir gar nicht wünschen können, dass ohne Antrag nichts mehr geht. Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn es immer wieder einmal einfach etwas ohne Antrag, vorab gibt, großzügig, eben als Geschenke.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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