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Gesundheit: Apolitische Versuchung

Étienne Balibar über die Hilferufe amerikanischer Intellektueller

„Danke Germany“ war kürzlich auf einem Plakat zu lesen, das Anti-Kriegs-Demonstranten im New Yorker Central Park hochhielten. Gerhard Schröder hat seit dem Bundestagswahlkampf unter linken Intellektuellen Amerikas viele Anhänger. Wie lange noch?, mag sich Präsident George Bush gefragt haben, als er dem Bundeskanzler beim Nato-Gipfel in Prag mit einem ironischen Lächeln die Hand zur Versöhnung reichte.

Schon kurz nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 baten „liberale Stimmen“ Europas Intellektuelle um Unterstützung, sagte der französische Philosoph Étienne Balibar jetzt in Berlin. Er sei überrascht, erklärte Balibar bei seiner Mosse-Lecture an der Humboldt-Universität, welch große Hoffnungen liberale US-Intellektuelle auf ihre westeuropäischen Freunde setzten. Bürger dieses „mächtigen selbstbewussten Landes“ fragten nun nach Rat, wie sie ihr Land effektiv gegen den Terror verteidigen könnten, ohne Bürgerrechte und westliche Werte zu gefährden. „Sie bitten uns darum, moralisch und juristisch zu intervenieren“, berichtet Balibar. Er räumt freilich ein, dass solche Stimmen in den USA in der Minderheit sind.

Balibar, der zurzeit Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California in Irvine lehrt, versucht seinen liberalen Gesprächspartnern zwei Dinge zu erklären: Die europäischen Intellektuellen stecken selber in einer Krise. Aber sie könnten diese Krise zu dem Modell machen, das auch die amerikanische Gesellschaft retten könnte. Auch im voll besetzten Audimax Unter den Linden wollte der große Theoretiker des Marxismus („Das Kapital lesen“, 1971) dieses Paradox plausibel machen.

Die Krise der europäischen Intellektuellen beschreibt Balibar schonungslos: „Am Vorabend neuer Kriege“ seien sie einer neuen „apolitischen Versuchung“ erlegen. Resigniert, tief verunsichert wie einst Thomas Mann nach dem Ersten Weltkrieg arbeiteten sie an einem weiteren Kapitel der „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Europas Intellektuelle ließen derzeit ihr „Potenzial, Diskurse über die Grenzen hinweg zu vermitteln“ brachliegen, sie setzten keine kritischen Fragen auf die Agenda der EU-Öffentlichkeit.

„Europas Schwäche als Vermittler“ nach dem 11. September habe viele Ursachen: Der Staatenbund löse nicht einmal seine internen Probleme, habe selbst noch zu keiner Identität gefunden. Die Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts seien auch im 21. Jahrhundert nicht zu Ende wie in Jugoslawien oder Irland. Europäische Interventionsversuche im israelisch-palästinensischen Konflikt bleiben erfolglos. Und die Situation in Tschetschenien „negiert den europäischen Charakter Russlands“. Kann Europa keine Außenpolitik betreiben, weil es keine gemeinsame Innenpolitik hat? Europa, sagt Étienne Balibar, werde nie ein „Großraum“ sein. Es bleibe eine Region der beweglichen Grenzen.

Gerade in der „Zerbrechlichkeit, im transitorischen Zustand“ Europas sieht Balibar jedoch ein Modell – auch für die USA. Diese sollten ihre Abschottung gegenüber anderen Zivilisationen beenden. Mit dem weltweiten Wandel vom Unilateralismus zum Multilateralismus müsse langfristig eine „kontrollierte Entwaffnung“ aller Länder einhergehen, die Massenvernichtungswaffen besitzen. Wenn die Welt die „Kalten-Kriegs-Strukturen“ überwinde, könne sie auch terroristische Gewalt und Gegengewalt überwinden. „Ist das utopisch?“, fragte Balibar in das Audimax der Humboldt-Universität. Viele nickten. Und Balibar erklärte: Bürgergesellschaften, die Rechtspolitik statt Militärpoltik betrieben, die eine Politik der „Anti-Warfare“ betrieben, seien sehr wohl reale Modelle. Schließlich waren es die USA, die schon einmal erfolgreich zwischen Israel und Palästina vermittelten. Gewaltfreie Intervention sei also möglich.

Am 5. Dezember um 19 Uhr hält der Medientheoretiker Friedrich Kittler zum Thema „Staaten und ihre Anderen“ im Audimax, Unter den Linden 6, die nächste Mosse-Lecture.

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