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Gesundheit: Arzneiverordnungs-Report 2000: Jedes fünfte verordnete Mittel ist unnötig

In Berlin haben die Kassenärzte ihr Jahresbudget für Medikamente schon gestern ausgeschöpft. Zufällig wurde in der Stadt am selben Tag der "Arzneiverordnungs-Report 2000" vorgestellt.

In Berlin haben die Kassenärzte ihr Jahresbudget für Medikamente schon gestern ausgeschöpft. Zufällig wurde in der Stadt am selben Tag der "Arzneiverordnungs-Report 2000" vorgestellt. Daraus geht hervor, dass sich in Deutschland noch 8,2 Milliarden Mark jährlich für Arzneimittel einsparen ließen, ohne die Patienten zu gefährden, sofern sich bei Ärzten der Trend zu umsichtigerem Verhalten fortsetzt. Die Medikamente, die letztes Jahr auf Kassenrezept verschrieben wurden, kosteten zusammen 36,8 Milliarden Mark - 2,9 Prozent mehr als 1998.

Der Heidelberger Pharmakologe Ulrich Schwabe, der das soeben im wissenschaftlichen Springer-Verlag erschienene Werk (944 Seiten, 79 Mark) zusammen mit Dieter Paffrath herausgibt, findet diesen Anstieg relativ maßvoll. Er führt dies nicht zuletzt auf das sehr vernünftige "Gemeinsame Aktionsprogramm zur Einhaltung der Arzneimittel- und Heilmittelbudgets" zurück, das Ärzte, Kassen und Bundesgesundheitsministerium erarbeiteten. Gegen dieses Papier hatten zwei Pharmafirmen eine Einstweilige Verfügung erwirkt - aber da hatten es alle Ärzte schon in der Hand.

Kürzlich sagte Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer vor dem Bundesfachverband der Arzneimittelhersteller, "dass in den Regionen, in denen eine gute Beratung von Ärztinnen und Ärzten bezüglich der Arzneitherapie stattfindet, auch die Budgets eingehalten werden können". Wie Schwabe feststellt, verhindert die Pharmaindustrie aber immer wieder die Verbreitung objektiver Informationen über Medikamente. Im Arzneiverordnungs-Report 1997 musste ein ganzes Kapitel geschwärzt werden, weil es umstrittene Mittel ohne hieb- und stichfest nachgewiesene Wirksamkeit beim Namen nannte. Im April 1999 wurde auch die Neufassung der Arzneimittelrichtlinien, die Ärzten beim Sparen ohne Risiko für die Patienten helfen sollten, auf Antrag von drei Pharmafirmen verboten.

"Damit waren Einsparungen von 650 Millionen Mark nicht realisierbar", schätzt Schwabe. Und weitere 550 Millionen hätten nach seiner Berechnung eingespart werden können, würde die Pharmaindustrie nicht das Festbetragsverfahren gerichtlich blockieren. Zählt man noch die 87 Millionen zusätzlicher Arzneikosten durch die einprozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer hinzu, dann wären das für 1999 insgesamt Mehrkosten von 1287 Millionen Mark. Die tatsächlichen Mehrausgaben gegenüber dem Vorjahr liegen aber nur bei 1051 Millionen Mark.

"Unter diesen insgesamt schwierigen Rahmenbedingungen hat die Ärzteschaft ihre Bemühungen um eine maßvolle Modernisierung der Arzneimitteltherapie fortgesetzt", heißt es anerkennend im Einleitungskapitel des Reports. Die Zahl der Verordnungen ging um drei Prozent zurück; von den umstrittenen Medikamenten wie zum Beispiel Venenmitteln oder Präparaten, die bei Husten den Schleim lösen sollen, die angeblich die Durchblutung steigern oder gar den Altersabbau stoppen, wurden sogar 13,5 Prozent weniger verschrieben.

Als vor einem Jahr der Arzneiverordnungs-Report 1999 vorgestellt wurde, hatte der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, Jürgen Bausch, die Befürchtung geäußert, künftig würden die Kosten teurer neuer Präparate nicht mehr durch Einsparungen an anderer Stelle zu kompensieren sein. Das hat sich zum Glück nicht bestätigt. Im neuen Report heißt es, durch Zurückhaltung bei Verordnungen umstrittener Präparate hätten die Ärzte die nötigen Ressourcen erwirtschaftet, "um neue Arzneimittel gegen Bluthochdruck, Herzinfarkt, multiple Sklerose, Virushepatitis und psychische Krankheiten anwenden zu können". Dies zeigen kräftige Anstiege auf diesem Gebiet.

Den neuen Medikamenten ist diesmal ein eigenes Kapitel gewidmet, ebenso den neuen Spezialpräparaten: Mittel für Krebs- und Aidskranke gehören dazu. Sie machen jetzt fast 13 Prozent der gesamten Arzneimittelkosten aus, mit steigender Tendenz. Schwerkranken brauchen die Ärzte aber auch in Zukunft kostspielige neue Medikamente nicht vorzuenthalten, sofern sie weiterhin möglichst alle Einsparmöglichkeiten ausschöpfen. Das Buch gibt Hinweise dafür: Noch immer werden für drei Milliarden Mark pro Jahr Mittel ohne nachgewiesene Wirksamkeit verordnet. Und noch immer, meint Schwabe, werden zu viele teure Originalpräparate statt so genannter Generika mit identischen Wirkstoffen, aber ohne geschützte Markennamen, verschrieben.

Die Generika bilden den diesjährigen Schwerpunkt des Reports. Denn gerade jetzt läuft der Patentschutz für viele häufig verschriebene Präparate ab. Deshalb wären durch weiteren Austausch kostspieliger "Markenartikel" gegen gleich gute Generika sowie durch Verzicht auf so genannte Analog-Präparate - Scheinnovitäten ohne therapeutischen Zusatznutzen - noch einmal 8,2 Milliarden Mark zu sparen, schätzt Schwabe. Ohne Schaden für die Patienten.

Als Voraussetzung für weitere Einsparungen nannte Herrmann Schulte-Sasse, Leiter der Abteilung Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium, eine objektive Information der Ärzte: "Die interessengeleiteten und kostentreibenden Informationen der Pharmaindustrie müssen dringend konterkariert werden", meinte der Internist und Arzneimittelfachmann, Der Arzneiversorgungs-Report bringe Licht ins datenlose Dunkel. Dringlich sei eine Diskussion vor allem über die Frage, aus welchen - nicht selten außermedizinischen - Gründen Ärzte ein Medikament verordnen.

In Deutschland verlassen nach Schulte-Sasses Schätzung 85 bis 90 Prozent der Patienten die Hausarzt-Praxis mit einem Rezept, in Holland nur 60 Prozent. Von "Marketing mit dem Rezeptblock" habe der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hessens, Jürgen Bausch, einmal gesprochen. Durch sein Engagement habe er es geschafft, dass die hessischen Ärzte mit ihrem Arzneimittelbudget ausgekommen sind.

Warum in Berlin so viel mehr für Arzneimittel ausgegeben wird als anderswo, dafür hatte Schulte-Sasse dem Tagesspiegel gegenüber zwei Erklärungen: Vor allem gebe es in der Stadt besonders viele Aidskranke, die sehr teure Medikamente brauchen. Zum anderen seien wahrscheinlich die Preisunterschiede auch bei den Generika nicht genügend beachtet worden.

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