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Gesundheit: Auch im Alter ist Schwermut kein Schicksal

Das St.-Hedwig-Krankenhaus bietet als einzige Berliner Beratungsstelle spezielle Therapien an

Psychiatrie für alte Menschen – da kann Alzheimer ja nicht weit sein. Diese verbreitete Meinung trifft aber oft nicht zu. „Zwei Drittel der Patienten, die wir betreuen, leiden nicht an einer Demenz, sondern an einer der seelischen Erkrankungen, die auch Jüngere haben“, sagt Richard Mahlberg, Leiter des Gerontopsychiatrischen Zentrums der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus. Am häufigsten treten Depressionen auf, an der zwischen fünf bis zehn Prozent der über 65-Jährigen zumindest zeitweise leiden.

Bei Depressionen helfen Psychotherapien und Medikamente – bei Jung wie bei Alt. Dass es dennoch Zentren speziell für psychisch kranke ältere Menschen geben muss, dafür kann Mahlberg gute Gründe nennen. „Die Krankheiten zeigen bei Älteren oft ein anderes Bild, und sie verlaufen anders als bei Jüngeren.“ Hinzu kommt, dass Senioren oft mehrere Krankheiten haben und viele Tabletten nehmen müssen. Der Arzt sollte also wissen, ob deren Wirkungen sich in die Quere kommen könnten.

„Außerdem sind die körpereigenen Abbauwege für Medikamente im Alter oft gestört. So brauchen ältere Patienten andere Dosierungen“, sagt der Psychiater. Mehr und mehr werde auch erkannt, dass Psychotherapien „generationenadäquat“ sein müssen, um optimal wirken zu können. Dass eine Psychotherapie auch im höheren Lebensalter noch helfen kann, haben einige Studien inzwischen eindrucksvoll demonstriert. Der Tübinger Psychologieprofessor Martin Hautzinger hat eigene Programme dafür entwickelt.

Allerdings stehen viele Angehörige der heute älteren Generation einer Psychotherapie skeptisch gegenüber, so dass sie dafür erst gewonnen werden müssen. „Die Patienten, die wir behandeln, haben das Dritte Reich und den Krieg erlebt, sie mussten sich oft durchboxen und haben ein vorwiegend körperliches Bild von Krankheit“, sagt die Psychotherapeutin Nora Dannigkeit. So kommen viele depressive Ältere auch zunächst mit körperlichen Beschwerden zum Arzt. Zu Beginn der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Einzel- oder Gruppengespräche, die sie im St.-Hedwig-Krankenhaus anbietet, versucht die Therapeutin deshalb, ein Grundverständnis für das Zusammenspiel zwischen Körper und Seele aufzubauen.

Sie findet es auch immens wichtig, die körperlichen Beschwerden ernst zu nehmen, von denen Ältere meistens geplagt werden und die ihren Aktionsradius nach und nach einengen. Neun von zehn Senioren, die in die Klinik kommen, haben in der Zeit davor solche schweren körperlichen Einschränkungen erlebt oder einen nahe stehenden Menschen verloren. Verlust ist also ein wichtiges Thema der Psychotherapie im Alter. In einer Gruppe ähnlich Lebenserfahrener ist es leichter, Veränderungsprozesse einzuleiten, um Raum für positivere Gedanken und Gefühle und für neue Aktivitäten entstehen zu lassen.

Depressionen zu erkennen – und zu behandeln, statt sie als „normale“ Begleiterscheinung des Älterwerdens zu betrachten, das kann Leben retten. Denn die Suizidrate depressiver Menschen über 65 ist doppelt so hoch wie die jüngerer. Im St.-Hedwig-Krankenhaus soll ein niederschwelliges Angebot die Chance zum frühzeitigen Eingreifen erhöhen. Dazu gehört, dass man zur einzigen Berliner Beratungsstelle für seelische Gesundheit im Alter zunächst keinen Kranken- oder Überweisungsschein mitbringen muss.

Wer Angst hat, aus seiner Trauer nicht mehr allein herauszufinden, wer als Angehöriger fürchtet, die alten Eltern könnten eine Demenz entwickeln, oder wer Wege aus der Isolation sucht, kann sich dort melden. „Viele alte Menschen warten ja, bis sie richtig krank sind und keine andere Wahl mehr haben“, erklärt Sozialpädagogin Mechthild Niemann-Mirmehdi, Koordinatorin des gerontopsychiatrischen Zentrums.

Dazu trägt nicht zuletzt die Angst bei, im Ernstfall in einer psychiatrischen Klinik oder im Altenheim zu landen, wenn man wegen psychischer Probleme zu Hause nicht mehr klarkommt. Möglicherweise kann das eine Behandlungsphase in der Tagesklinik verhindern. Zielgruppe sind diejenigen, die an Depressionen oder Angststörungen, an Alkoholabhängigkeit oder auch an leichten Formen der Demenz leiden und mit der rein ambulanten Behandlung unter-, mit einer stationären Aufnahme jedoch überversorgt wären.

Für sie kommt der vier- bis sechswöchige, von der Krankenkasse bezahlte Aufenthalt in Frage. Von Montag bis Freitag gibt es in der Tagesklinik jeweils ein siebenstündiges Programm, das von Ärzten, Psychologen oder Ergotherapeuten gestaltet wird. Was nach den vier bis sechs Wochen kommt, ist individuell recht unterschiedlich – ebenso wie die alten Menschen, die dort behandelt werden.

Adelheid Müller-Lissner

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