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Gesundheit: Aufstehen statt sitzenbleiben

Wiederholen bringt nichts. Was Experten über die neuen Pisaergebnisse sagen

„Was wissen und können Jugendliche?“, fragt der Länder-Vergleich der Pisa-Studie 2003. Sie wissen und können mehr als beim ersten Pisa-Test im Jahr 2000 – vor allem wenn sie ein Gymnasium besuchen. Alle Länder, auch das Schlusslicht Bremen, haben sich im internationalen Vergleich verbessert – aber die Unterschiede zwischen den Ländern bleiben eklatant. Die 400-seitige ausführliche Auswertung der Tests in Mathematik, Naturwissenschaften, Lesen und Problemlösen, an denen im Frühjahr 2003 bundesweit 44580 Schüler in 1487 Schulen teilgenommen haben, zeige „wo die besonderen Herausforderungen für alle Schulministerien und alle Schulen“ liegen, sagte die Präsidentin der Konferenz der Kultusminister (KMK), Johanna Wanka, gestern bei der Vorstellung der Studie in Berlin.

„Jedes Land bekommt von uns Informationen, wo seine Schulen stehen“, sagt der Leiter der deutschen Pisa-Studie, Manfred Prenzel, im Tagesspiegel-Interview (siehe Seite 2). Die Konsquenzen daraus müssten die Ländern selber ziehen.

Der Besuch des Gymnasiums hängt von der sozialen Herkunft ab: Wenn ein oder beide Elternteile den höchsten möglichen ökonomischen Status haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind ein Gymnasium besucht 4,2 mal so hoch wie bei einem Arbeiterkind. Dabei gibt es starke regionale Schwankungen: In Bayern ist die Chance, aufs Gymnasium zu kommen, für Kinder aus ökonomisch starken Familien sieben Mal höher, in Brandenburg dagegen nur 2,4 Mal. Über dieses Ergebnis freut sich die KMK-Präsidentin und brandenburgische Wissenschaftsministerin Johanna Wanka (CDU): Es sei ein Zeichen dafür, „dass die Schere zwischen Ost und West nicht weiter auseinander geht“. Die noch immer starke Koppelung von sozialer Herkunft und Schulerfolg sei für die Schulminister „ein Fokus für die nächsten Jahre“. Konkret gehe es um die „individuelle und frühzeitige Förderung von schwächeren Schülern“ – besonders auch von Migranten. Die rheinland-pfälzische Schulministerin Doris Ahnen (SPD) betont, das dabei keine kurzfristigen Erfolge zu erzielen seien. Die noch amtierende Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) kritisiert die „Vernachlässigung sozial schwächerer Kinder“. Das könne sich Deutschland im Hinblick auf die soziale Verantwortung, aber auch auf die demographische Entwicklung nicht leisten. Um die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft zu garantieren, müssten die Bildungschancen in allen Ländern verbessert werden. Nur so könne der Bedarf an Fachkräften und an wissenschaftlichem Nachwuchs gedeckt werden. Die erste Weichenstellung dabei sei der Ausbau der Ganztagsschulen, sagt Bulmahn.

Muss der Anteil der Gymnasiasten bundesweit steigen? Sicher, sagt Sachsen-Anhalts Schulminister Jan-Hendrik Olbertz: „Doch die allgemeine Hochschulreife kann nicht das Ziel für alle Kinder sein.“ Für Jugendliche, deren Begabungen anders gelagert sind, müsse die Sekundarschule eine gleichwertige Einrichtung sein. Schulerfolg dürfe nicht nur am Abitur gemessen werden. So sieht es auch Prenzel. Das Ziel könne nicht sein, an möglichst viele Schüler schöne Zertifikate zu verteilen, wenn sie die entsprechenden Leistungen nicht bringen können. Das entscheidende Orientierungsmerkmal für schulischen Erfolg und auch für die Gerechtigkeitsfrage sei die tatsächliche Kompetenz der Schüler. Allein sie entscheide darüber, ob die Schüler auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig sein werden.

Mathematische Kompetenzen hängen stark von der regionalen Herkunft ab: In Mathematik – der Schwerpunkt bei Pisa 2003 – erreichen 32 Prozent der Bremer Schüler die niedrigste Kompetenzstufe I; in Bayern sind es nur 13 Prozent. Diese Schüler werden als Risikogruppe definiert. „Sie werden erhebliche Probleme bei der Berufsausbildung haben und an gesellschaftlichen Diskussionen nicht teilnehmen können“, sagt Pisa-Chef Prenzel. Dass Bremer Schüler ein hohes Risiko hätten, nur auf Kompetenzstufe I oder II zu kommen, sei ein „Gerechtigkeitsproblem“. Auch die Frage, ob Gymnasiasten eine hohe Mathematikkompetenz erwerben, sei abhängig vom Land, in dem sie unterrichtet werden. Zwischen bayerischen Gymnasiasten, die einen Mittelwert von 613 Punkten erreichen und Bremer Gymnasiasten (562 Punkte) liegen 50 Punkte Abstand – etwas mehr als ein Schuljahr. Bei der Lesekompetenz sind es immerhin 30 Punkte Unterschied. KMK-Präsidentin Wanka betonte, dass es bei den Leistungen in Mathematik und auch in den Naturwissenschaften im Vergleich zu Pisa 2000 durchweg Verbesserungen gebe. Geholfen hätten Programme, mit denen der Mathe- und Naturwissenschaftsunterrricht verbessert wird. In allen Ländern liege zudem die Problemlösungskompetenz der Schüler über dem Durchschnitt der OECD-Länder. „Das muss sich auch in der mathematischen Kompetenz widerspiegeln“, sagt Wanka. Bildungsforscher Prenzel kritisiert allerdings, dass es schon heute in einigen Ländern weitaus besser gelänge als in anderen, Fähigkeiten bei der Problemlösung auf die verwandte Mathematik zu übertragen: „In etlichen Ländern wird das kognitive Potenzial der Schüler nicht voll ausgeschöpft.“ Die Leistungsunterschiede zwischen den Ländern, sagt Wanka, sollten durch die Bildungsstandards auch für das Fach Mathematik ausgeglichen werden, die jetzt bundesweit eingeführt werden.

Sitzenbleiben macht Schüler nicht kompetenter: Der Anteil von Schülern, deren Schullaufbahn verzögert ist, weil sie bei Schulbeginn zurückgestellt wurden oder Klassen wiederholen mussten, schwankt zwischen den Ländern von 20 bis 47 Prozent. Aber gerade bei Hauptschülern zeige sich, dass sie trotz einer oder auch mehrerer Klassenwiederholungen auf niedrigen Kompetenzstufen blieben, sagt Manfred Prenzel. Hier ist ein deutlich Appell an die Länder herauszuhören, das Sitzenbleiben abzuschaffen.

Für KMK-Präsidentin Wanka sind die vielen verzögerten Schullaufbahnen eines der Probleme, die erst mittelfristig durch Schulreformen lösbar sind. Wichtig sei eine frühzeitige, individuelle Förderung schwacher Schüler, um das Sitzenbleiben zu vermeiden. Und Lehrer müssten so aus- und fortgebildet werden, dass sie besser mit der Heterogenität von Klassen umgehen können.

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