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Gesundheit: Bildungspolitik: Keine Angst vor der Masse

"Wer Humboldt für alle will, kriegt ihn für keinen." Ein ebenso wahrer wie provozierender Satz.

"Wer Humboldt für alle will, kriegt ihn für keinen." Ein ebenso wahrer wie provozierender Satz. Der Generalsekretär des Stifterverbandes, Manfred Erhardt, begründete mit dieser Aussage 1998 die Dringlichkeit einer umfassenden Bildungsreform. Der einstige Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers hat Humboldt für tot erklärt, was eigentlich eine Binsenweisheit ist. Und prompt konterte der damalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Hans-Uwe Erichsen: Humboldt ist nicht tot, sondern er droht an der Masse zu ersticken. Allen drei Aussagen ist eines gemeinsam: Humboldt hat Bildung nicht für die Massen gedacht.

Die heutige Demokratie verlangt eine neue Sicht. Eine Gesellschaft, die sich nicht durch Herkunft oder Beziehungen definiert, sondern den Aufstieg durch Leistung organisieren will, muss auch in der Bildung andere Wege gehen als eine Aristokratie oder Monarchie. Dem idealen Bildungsbegriff, den Wilhelm von Humboldt um 1810 für Gymnasien und Universitäten gefunden hat, haftet etwas Elitäres an: Bildung ist nie vollendet, sie erneuert sich ständig "als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes". Bildung setzt damit die außerordentliche Anstrengung voraus.

Humboldt hat auch von der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden gesprochen - von den Professoren, die ebenso auf den Dialog mit den Studenten angewiesen sind wie die Studenten auf das umfassende Wissen des älteren Professors. Die Traditionshüter der Bildung interpretieren das in dem Dialogprinzip enthaltene demokratische Element lieber aristokratisch. Das war allenfalls vor dem historischen Hintergrund gerechtfertigt: 256 Studenten an der Berliner Universität im Jahr 1810 und 2000 Studenten an der Friedrich-Wilhelms-Universität im Jahr 1830 zeigen die engen Grenzen auf. In den Massenuniversitäten von heute mit 30 000 bis 60 000 Studenten darf man Humboldt nicht mehr aristokratisch interpretieren, sondern sollte von ihm retten, was noch zu retten ist. Ohne eine klare Orientierung, was Massenausbildung bedeutet und was einer Eliteausbildung vorbehalten bleibt, wird es nicht mehr gehen.

Der Sputnik-Schock

Die Idee, dass Hochschulbildung auch etwas mit Massen zu tun haben könnte, wurde erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts virulent. Wie so oft kam der Anstoß von der großen Politik und nicht etwa von den Wissenschaftlern oder Pädagogen selbst. Es war der Schock, den der erste Start einer Weltraumrakete mit dem Satelliten "Sputnik" durch die Sowjetunion im Jahr 1957 ausgelöst hatte. Mit einem Mal investierten die westlichen Länder verstärkt in die Bildung, weil der Sputnik-Vorsprung der Sowjets zum Sicherheitsrisiko für die Demokratie zu werden drohte. Deutschland entdeckte die "Bildungskatastrophe".

Der Rückstand des Wirtschaftswunderlands Bundesrepublik war auch wirklich unglaublich: Während andere Staaten schon zehn bis 15 Prozent eines Jahrgangs zum Studium führten, lag Deutschland mit nur 6,8 Prozent eines Altersjahrganges abgeschlagen zurück.

Die Aufbruchstimmung dauerte nur kurze Zeit. Von der CDU regierte Länder wie Baden-Württemberg oder der CDU-Minister Paul Mikat in Nordrhein-Westfalen standen in der Bildungsreform genauso weit vorn wie der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf mit seiner Forderung nach dem Bürgerrecht auf Bildung. Die SPD, an der Spitze Berlins Landesschulrat Carl-Heinz Evers, entdeckte die Gesamtschulen. Aber dann entwickelte sich in den Folgejahren das typisch deutsche Gebräu von Bildungsideologien und so genannten Sachzwängen. Seitdem erleben wir einen Zickzackkurs ohnegleichen. Warum?

Leider entdeckten auch viel zu viele Studenten und junge Wissenschaftler den Marxismus im modischen Gewand eines Herbert Marcuse. Noten sind repressiv, Prüfungen sind repressiv, und wenn der Spätkapitalismus nicht auf Prüfungen und Noten verzichten wollte, dann musste man ihn unterlaufen. In den Geistes- und Sozialwissenschaften wurden sehr gute Noten zur Regel: nicht als Ergebnis einer enormen Leistungssteigerung sondern als Solidaritätsausweis aller Linken gegen die Repression. Die Konservativen zogen nach, wollten sie doch nicht die Studenten und Nachwuchswissenschaftler an die Linken verlieren.

Die Gesellschaft bekam Angst vor den Akademikern, von denen man nicht wusste, was sich hinter ihren Zeugnissen verbarg: echte Leistung, verkappter Marxismus, ein "langer Marsch durch die Institutionen" (Rudi Dutschke)? Holt sich der Staat seine eigenen Totengräber als künftige Lehrer, Wissenschaftler, Journalisten ins Haus? Steht uns gar ein Akademisches Proletariat bevor? Die Folgen waren Einstellungstests durch die Arbeitgeber, die Frage nach dem Professor und der Uni, an der man studiert hat, "schwarze Listen" und Anfragen beim Verfassungsschutz. Wer konnte angesichts der düsteren Wirklichkeit den Konservativen widersprechen, wenn sie zu fast allem Neuen Nein sagten und sich an Humboldt klammerten.

Die Angst der Politiker

Als in den siebziger Jahren erste Finanznöte aufkamen und sich die Bundesrepublik durch die Ölpreiserhöhung über Nacht in ihren finanziellen Grundfesten erschüttert sah, bekamen die meisten Politiker Angst vor dem Zauberlehrling, den sie mit der Bildungsexpansion geschaffen hatten. Wohin mit den künftigen Akademikern, wenn der Staat nicht mehr der Hauptabnehmer sein konnte und eine weitere Expansion des öffentlichen Dienstes unbezahlbar wäre? Letztlich haben seitdem die Finanzminister und die Ministerpräsidenten den Kultusministern das Heft aus der Hand genommen. Schlechte Zeiten für das Nachdenken über die Bildung in der Massengesellschaft.

Am fatalsten war der Beschluss der Ministerpräsidenten von 1977, für die Millionenjahrgänge, die zwischen 1961 und 1967 geboren wurden, nur noch an den Schulen zu sorgen. Den Hochschulen wurde ein miserabel finanziertes Überlastprogramm auferlegt. Die Politiker sprachen von der "Untertunnelung des Studentenberges", weil auf die Millionenjahrgänge der Pillenknick mit 700 000 bis 800 000 Geburten folgte. Durchwursteln war angesagt.

Der Niedergang der deutschen Universitäten zu Massenanstalten begann seit 1977 - heute klafft eine Lücke von acht Milliarden Mark, die die Hochschulen benötigen würden, um unter den Bedingungen der Massenuniversität adäquat ausbilden zu können. Noch gravierender: Während in anderen Ländern im OECD-Vergleich schon 40 Prozent aller jungen Menschen eine Hochschulausbildung beginnen, sind es in Deutschland nur 28 Prozent. Besonders negativ fällt der Vergleich bei den Absolventen ins Gewicht: Hohe Studienabbrecherzahlen führen in Deutschland dazu, dass 16 Prozenz eines Altersjahrgangs den Hochschulabschluss erreichen - im OECD-Durchschnitt sind es 23 Prozent. Auch das sind Hinweise, wie dringend in Deutschland über die Massenausbildung und Eliteförderung in der Demokratie nachzudenken ist.

Enges Zeitfenster für Reformen

Das Überraschungsgeschenk der Wiedervereinigung erzwang schnelles Handeln. Es gab keine Zeit, um über versäumte Bildungs- und Hochschulreformen nachzudenken und sie ausgerechnet in der Stunde null nachzuholen. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends sollen die längst überfälligen Konsequenzen gezogen werden. Die Folge: Der Wissenschaftsrat und die wieder in die Vorhand gekommenen Kultusminister der Länder müssen bei ihrer Neukonzeption radikaler werden als bei einer rechtzeitigen Anpassung in kleinen Schritten. Quer über Länder- und Parteiengrenzen hinweg gibt es heute im Wissenschaftsrat und unter den Kultusministern die Überzeugung, dass es jetzt getan werden muss, und zwar schnell. Das Zeitfenster für Reformen ist eng.

Nicht ohne Grund steht am Anfang der in dichter Folge veröffentlichten Reformempfehlungen des Wissenschaftsrats die Feststellung, dass Deutschland in einer Welt des Wissens keine Angst vor einem akademischen Proletariat haben sollte. Die Kultusminister schlossen sich dieser Sicht an.

Der nächste Schlag folgte: Schluss mit der Bildungsideologie im Namen Humboldts und mit der Fiktion, alle Studenten müssten wie künftige Gelehrte, die Wissenschaft als Beruf betreiben, vorbereitet werden. Heute haben wir uns auf 30 bis 40 Prozent eines Jahrgangs oder 300 000 Studienanfänger im Jahr hin zu orientieren. Die meisten Studenten benötigen eine wissenschaftlich fundierte Berufsausbildung und spätere Weiterbildung. Damit ist kein auf ein Idealbild hingezimmertes Langzeitstudium von sechs bis sieben Jahren mehr vertretbar. Der künftige Rhythmus heißt drei Jahre Bachelor-Studium für die Massen von 70 bis 80 Prozent der Studenten und danach der Wechsel in den Beruf. Nur eine Minderheit von 20 bis 30 Prozent der am besten Benoteten soll nach einer Selektion direkt zum Masterstudium zugelassen werden und in weiteren ein bis zwei Jahren die Vorbereitung auf die Wissenschaft oder höchste Führungspositionen in der Gesellschaft erlangen. Ob an Universitäten oder Fachhochschulen, ist dabei ohne Belang, sagt der Wissenschaftsrat. Das ist die zeitgemäße Verbindung von Massenausbildung und Elitestudium.

Aber eine heimliche Koalition der Professoren und Studenten ist gegen eine Radikalreform. Viele Professoren würden in einem auf das Wesentliche reduzierten Studienprogramm ihre Bedeutung verlieren, weil ihre Spezialgebiete und Subspezialitäten nicht mehr in den Prüfungen verlangt werden. Und die Studenten müssten sich radikal auf ein Studium umstellen, das nicht mehr mit Jobben, Weltreisen oder der Studentenzeit als eigenständiger Erlebnisphase zwischen Jugend und Erwachsenendasein zu vereinbaren wäre. Also beruft man sich weiter auf Humboldt.

Ähnlich radikal sind die Einschnitte bei der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Erst mit 40 ist der deutsche Nachwuchswissenschaftler reif für die Erstberufung auf eine Professur, aber dann ist er vor allem in den Naturwissenschaften schon zu alt, um noch kreativ genug zu sein. Die Amerikaner haben gute Erfahrungen mit einer Konzentration auf kurze Promotionszeiten und anschließende praktische Bewährung der Nachwuchswissenschaftler als Asistenzprofessoren gemacht. Die Deutschen Traditionswächter, verkörpert in den Fakultätentagen und im Hochschulverband, dagegen wollen nur kosmetische Korrekturen zulassen, ohne eine Antwort auf die Frage zu geben, wie es zu schaffen wäre, schon mit 35 Jahren über die Habilitation auch die Erstberufung zum Professor zu erreichen.

Der Wissenschaftsrat wird demnächst fordern: weg mit der Habilitation. Für die Öffnung anderer Wege gibt es Konzepte: die Bewährung in einer Assistenzprofessur oder Juniorprofessur. Auch ohne Habilitation kann man in die Elite vorstoßen - das gilt besonders für die Frauen.

Neuorientierung in der Schule

In der Schule stehen die Lehrer vor großen Problemen. Man kann nicht folgenlos seit Jahrzehnten die Klagen der Arbeitgeber hören, dass den Schulabgängern der zehnten Klassen nur zu häufig grundlegende Kenntnisse in der Rechtschreibung und in der Mathematik fehlen. Sind eine korrekte Rechtschreibung und mathematisches Denken nur einer Elite vorbehalten oder soll das Ziel, korrektes Deutsch und mathematisches Denken zu lernen, auch für die Massen erreichbar sein? Versuchen die deutschen Kultusminister zusammen mit der Schweiz und Österreich, eine Rechtschreibreform auszuhandeln, die das Lernen der Orthografie in einer neuen, logischen und leichteren Weise erlaubt, wird der Untergang der deutschen Sprache beschworen. Und das ausgerechnet von Schriftstellern. Dichter sollen sprachschöpferisch wie im "Ulysses" auch ohne Punkt und Komma in Satzbruchstücken schreiben, wenn es denn der Kunst dient. Nur im Alltag sind die meisten Menschen keine Künstler und sollten das normale Deutsch beherrschen. Was Lehrer und Schüler über die Rechtschreibung denken, ist vielen Intellektuellen leider gleichgültig.

In der Mathematik und den Naturwissenschaften machen es die Asiasten, die Skandinavier und Niederländer den Deutschen vor, wie man Massenausbildung mit Niveau verbinden kann. Die international vergleichenden TIMS-Studien der OECD haben es an den Tag gebracht, dass in japanischen oder skandinavischen Gesamtschulen in Mathematik und Naturwissenschaften ein Niveau erreicht wird, das in Deutschland lediglich Gymnasiasten erlangen. Das spricht nicht für mehr Gesamtschulen in Deutschland, sondern dafür, dass im Ausland Mathematik und Naturwissenschaften nach anderen, offensichtlich besseren Methoden unterrichtet werden.

In Deutschland geht man immer noch von der überholten Idee aus, dass zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Verständnis eine besondere Begabung gehört. Selbst die Kultusministerkonferenz scheut sich deshalb, Mathematik zu einem verbindlichen Prüfungsfach für jeden Abiturienten zu machen. Das sollte korrigiert werden.

Auch in der Schule lohnt sich das Nachdenken über die Frage, wie ohne Verlust der Standards in neuralgischen Fächern bessere Erfolge zu erzielen sind. Massenbildung und Eliteförderung müssen in der Demokratie kein Widerspruch sein. Die Deutschen müssen sich nur unverkrampft diesem Problem stellen.

Uwe Schlicht

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