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Gesundheit: Das Geheimnis des Pianisten

Wenn Geschichten wahr werden: Beim Erzählfest im Ethnologischen Museum ließen sich 700 Gäste verzaubern

Auf der Bühne im Ethnologischen Museum sitzt ein Mann am Flügel. Er spielt Jazzstandards, während die Zuhörer in den Saal strömen, und er spielt, wenn die Vorleser eine Pause machen. Der Student Richard Kropf erzählt, wie ein 13-jähriger Junge zum Mann wird. „Misty“ perlt aus dem Bechstein. Die Schülerin Lydia Dimitrow erzählt, wie ein verzweifelter Junge ins Leben zurückfindet. Der Pianist gibt ihm „Round Midnight“ mit auf den Weg. Dann steht der Mann vom Flügel auf und bekommt einen Namen: Bodo C. Hacheney. Und auch er beginnt zu erzählen: Über seine Leidenschaft für den Jazz und über seinen Klavierlehrer, für den Jazz nichts und Klassik alles ist. Dieser Klavierlehrer, man ahnt es schon, betritt am Ende auch die Bühne – und spielt virtuos Chopin.

Geschichten, die in dem Moment wahr werden, in dem sie jemand erzählt: Nicht nur abends, in den wundersam untereinander verwobenen Beiträgen der zwölf Finalisten erlebten die 350 Teilnehmer des Wettbewerbs und ihre Gäste den Zauber des Erzählens. Nachmittags von 15 bis 18 Uhr tummelten sich 700 Tagesspiegel-Leser in Erzählwelten wie dieser: Mareili von Lampes Heldin wird in der Nachkriegszeit von einem wilden Mädchen erpresst. Wenn sie ihr nicht jeden Morgen auf dem Weg zum Kindergarten Spielzeug gibt, drohen Prügel. Als das Kind die letzte Puppe abgegeben hat, kauft es sich den Weg mit Geschichten frei.

Ein kleines Mädchen von heute hat der Frau, die diese Geschichte vor afrikanischen Textil-Skulpturen erzählt, gebannt zugehört. „Ich glaube, sie hat es wirklich erlebt“, sagt die 10-jährige Katharina Fischer. Sie selbst dagegen hat sich ihre wilde Geschichte von A bis Z ausgedacht. Ein Berliner Junge fängt einen Juwelenräuber mit dem Lasso – und gewinnt so eine sehr gewagte Wette.

Katharinas Mutter kann die blühende Fantasie ihres Kindes kaum fassen und lobt deren Lehrerin, die „die Kreativität der ganzen Klasse geweckt hat“. So eine Lehrerin ist auch Nina Kasperski. Sie hat ihre Kinder aus der Kreuzberger Ergänzungsschule dazu gebracht, Märchen zu schreiben – trotz ihrer Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. „Wir sind stolz auf uns und auf unsere Lehrerin“, sagen Yesim Gül und Seda Colak, die zusammen „Die Flaschenpost“ geschrieben haben.

Kinder gemeinsam mit erwachsenen Erzählern in einen Wettbewerb zu schicken, sei wohl etwas ungerecht, fürchtet ein Mann aus dem Publikum. Hat die 10-jährige Maike Kintzel mit ihrem kurzen Schauerroman um die Rettung der verfolgten Stubenfliegen eine Chance gegen die kenntnisreiche musikalische Erzählung des Physikers Bodo C. Hacheney? Sie hat: Maikes Geschichte wird ebenso wie die des 12-jährigen Daniel Platt über einen Schummel-Versuch mit Walkie-Talkies im „Kinderspiegel“ gedruckt. Zwei der „erwachsenen“ Geschichten erscheinen auf der „Wissen“-Seite: Der Streit um Jazz und Klassik (mit einer fantastischen Auflösung); und Richard Kropfs Geschichte über die Leiden der Pubertät.

Geschichten vom Erwachsenwerden sind es denn auch, die das Publikum für sich gewinnen: Lydia Dimitrow, 14-jährige Schülerin des Franz-Liszt-Gymnasiums, macht mit ihrer „Bahnhofsbekanntschaft“ den ersten Publikumspreis. Als der lebensmüde Jugendliche, der eben seinem unfreiwilligen Retter begegnet ist, noch einmal ganz nah an die Bahnsteigkante geht, sind auch die jungen Zuhörer atemlos still. Schallendes Gelächter begleitet den Erzähler Florian Scheibe. Der Filmstudent führt seinen Helden mit leichter Hand zum ersten Samenerguss und lässt dessen Mutter im spannendsten Moment ins Zimmer platzen. „Darf ich das jetzt hören?“, scheinen die Seitenblicke der Kinder im Publikum zu fragen. Sie dürfen, denn die Erwachsenen sind ganz weit weg, in ihrem Jugendzimmer von vor 20 Jahren, im Schwimmbad mit dem schönsten Mädchen der Klasse – oder im Auto mit dem Finalisten William Warnstedt, dem verständnisvollsten Taxifahrer Berlins.

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