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Gesundheit: „Das Leben ist kein süßer Dämmerzustand“

Studenten sollen jobben, sagt Immanuel Kant. Wolfram Eilenberger trank Tee mit dem brillanten Philosophen und miserablen Hauslehrer

Professor Kant, Sie sind der berühmteste Philosoph deutscher Zunge …

Da sollte ich gleich unterbrechen, denn ein Philosoph, der diese Bezeichnung wirklich verdient, hätte einem Ideal der Weisheit in seiner gesamten Lebensweise zu entsprechen. Und in dieser Beziehung wäre es gewiss sehr ruhmredig, sich selbst einen Philosophen zu nennen.

Aber ein staatlich anerkannter Professor der Philosophie sind Sie doch?

Jawohl!

Sie wurden indes sehr spät auf einen Lehrstuhl berufen, lehrten an keiner Eliteuniversität, sondern in der Provinz in Königsberg. Fühlen Sie sich angesprochen, wenn heute von Eliten die Rede ist?

Es hat immer etwas Vermessenes, sich selbst als Vorbild oder Elite darzustellen. Meine gesamte Philosophie kreist ja um den Gedanken, dass wir in eben jenen Fragen, auf die es wirklich menschlich ankommt, alle gleich sind. Insofern halte ich es schon für vorbildlich, dass es ein Mensch aus einfachen Verhältnissen geschafft hat, selbst als vorbildlicher Denker angesprochen zu werden. Ihre Meinung vom provinziellen Königsberg teile ich allerdings nicht. Es ist eine der wenigen Städte, wo man Menschenkenntnis erwerben kann, ohne verreisen zu müssen.

Sie haben es angedeutet: Sie konnten sich ein Studium kaum erlauben. Wie haben Sie ihr Studium finanziert?

Ach, diese These, es hinge nur von finanziellen Verhältnissen ab, das entspricht doch einfach nicht den Tatsachen. Worauf es im Studium wirklich ankommt, ist die Leidenschaft nach Erkenntnis. Diese Sehnsucht hat mich immer getrieben. Im Übrigen ist es heute ja empirisch erwiesen, dass Studenten, die ihr Studium selbst finanzieren, die besseren Leistungen bringen. Noch dazu haben sie den Vorteil, dass Sie nicht nur das akademische Leben kennen.

Sie sprechen aus eigener Erfahrung?

Ich habe während der akademischen Ausbildungszeit meinen Unterhalt als, wie man heute wohl sagen würde, Nachhilfelehrer verdient.

Und durch verwegenes Billardspiel in den Salons?

Wohl wahr, auf Billard verstehe ich mich ganz vortrefflich. Andererseits war ich wohl einer der schlechtesten Hauslehrer, die es je gab.

Es muss da, betrachten wir Ihr Leben, eine Art späten Erleuchtungsmoment gegeben haben. Sie haben die „Kritik der reinen Vernunft“, immerhin ein Werk von gut 800 Seiten, in nur wenigen Monaten, gleichsam „wie im Fluge“ zu Papier gebracht.

Solch ein Erlebnis gab es. Als ich das Werk abschloss, stand ich im 58. Lebensjahr, hatte mithin ein Alter erreicht, in dem ein deutscher Professor eher an die Pensionierung denkt. Es ist nun einmal so, und jeder, den die Erkenntnis treibt, weiß dies, dass zur Reifung der Gedanken eine gewisse Zeit vonnöten ist. Eine Art Erweckung verdanke ich den Schriften des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau, die ich nach 1760 zu studieren begann. Davor, muss ich sagen, war ich ein reiner Schulphilosoph, gar ein wenig herablassend meiner Herkunft und den gemeinen Menschen gegenüber. Ich verachtete Menschen, die meine Sehnsucht nach Erkenntnis nicht teilten. Rousseau hat mir die Augen geöffnet und mich grundlegend verändert, denn er hat mich gelehrt, dass es nicht reine Erkenntnis und metaphysische Spitzfindigkeiten sind, die der Philosophie ihren Wert verleihen, sondern das Schicksal und Leben der Menschen und ihrer Gemeinschaft. Ich wäre besser Sattler geblieben, wie mein Vater, hätte ich nicht irgendeinen philosophischen Beitrag zur Verbesserung der Menschenrechte zu leisten. Es hat dann noch zwei Jahrzehnte in Anspruch genommen, bis ich diesen Anstoß gedanklich durchgearbeitet hatte und auch theoretisch in meinem Werk umsetzen konnte. Denken braucht Zeit.

Wir wollen gerne zu Ihrem eigenen Denken kommen. Der Mensch, so wie Sie ihn verstehen und begreifen, befindet sich in einer durchaus misslichen Lage.

(Kant erhebt sich aus dem Sessel, nimmt die „Kritik der reinen Vernunft“ aus seinem Bücherregal und liest vor:) „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal, dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur selbst vorgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

Die Kernidee meines Hauptwerkes spricht sich tatsächlich schon in diesem ersten Satz aus. Es ist ja eine der wenigen Stellen, die sich überhaupt zitieren lassen. Sie nennen diese Lage des Erkenntniswesens misslich. Da möchte ich gerne zurückfragen, ob Sie es wohl lieber hätten, wenn wir, wie man zu meiner Zeit noch sagte, „selbstgenügsam wie die Südseeinsulaner“ wären, unbekümmert, ohne Unannehmlichkeiten, aber auch ohne tiefere Fragen. Das ist ein Bild des menschlichen Glückes, das ich nicht teile. Es geht doch im Leben nicht um einen süßen Dämmerzustand, sondern um den Versuch, Freiheit zu erlangen. Darum, unseren Ort in dieser Welt zu bestimmen, sie anzunehmen und, so weit es in unserer Macht steht, sie auch vernünftig zu gestalten. Dazu ist die Auseinandersetzung mit den großen Sinnfragen unbedingt nötig.

Sowie eine philosophisch vermittelte Einsicht in unsere Erkenntnisgrenzen.

Ja. Unser Einsichtsvermögen hat Grenzen und unterliegt Bedingungen. Und es ist wichtig, diese Grenzen philosophisch zu bestimmen und auszuloten. Gewisse Antworten und gerade die wichtigsten, die nach der Existenz Gottes, nach der Unsterblichkeit der Seele und selbst die nach den eigentlichen Wurzeln unserer Handlungsfreiheit, liegen jenseits dieser Grenzen. Würden wir, wie es manche meiner Kollegen vertreten haben, wirklich in der besten aller möglichen Welten leben, hätte der Mensch keinen Grund für diese Fragen. Die Frage nach dem „Warum“ stellt sich ja nur dann, wenn etwas nicht so ist, wie es sein soll.

Das bringt uns zur Rede vom „Ding an sich“. Korrigieren Sie uns, falls nötig: Das, was unsere Sinne eigentlich anregt, können wir nicht erkennen. Der Wirklichkeit, die wir erfahren und in der wir leben, wird von der Beschaffenheit unserer Verstandes eine gewisse Ordnung vorgegeben. Nur über diese spezifisch geordnete und bedingte Erfahrungswirklichkeit lässt sich sinnvoll sprechen.

Das ist richtig. Ich möchte den entscheidenden Punkt aber noch ein wenig populärer formulieren. Alle meine Vorgänger, sogar David Hume, der ja nicht einmal an die Existenz Gottes glaubte, haben eine Theorie der Wahrnehmung vertreten, die voraussetzt, Gottes Wahrnehmung sei das eigentliche Vorbild. Ich nicht.

Es wurde Ihnen im Gegenzug vorgeworfen, Sie machten den Menschen mit Ihrer Theorie, nach der sich nicht der Verstand nach den Dingen, sondern die Dinge nach unserem Verstand zu richten haben, selbst zu so etwas wie einem Weltenschöpfer, zu einem „Gott im Kleinen“.

Kein übler Einwand. Doch zwischen dieser Art der Anmaßung und der anderen bliebe dann immer noch zu wählen. Jedenfalls verzichte ich darauf, für den Menschen eine gottähnliche Wahrnehmungsstruktur anzunehmen und betone damit deutlich die Unterschiede zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Geist. Das kommt mir weitaus weniger anmaßend vor.

Sind Sie selbst ein gläubiger Mensch?

In dunklen Stunden erlaube ich mir die Hoffnung auf ein höchstes, allmächtiges und gütiges Vernunftwesen. Aus rein theoretischer Sicht aber weiß ich, dass solch eine Annahme keine Grundlage hat. (Herein tritt Kants treuer Diener Lampe und reicht den Tee.) Danke, du Guter.

Herr Kant, entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch gibt es bei Ihnen einen wichtigen Bedeutungsunterschied zwischen dem Verstand und der Vernunft.

So ist es. Beim Verstand geht es um die Erkenntnis. Bei der Vernunft um das Denken. Nun ist der Verstand enorm wichtig, doch bringt er uns allein nicht sehr weit. Wir sind viel zu fixiert auf den Verstand, auf Gewissheiten, den theoretischen Bereich und die Naturwissenschaften. Der Verstand kann Daten sammeln, Tabellen erstellen, Tatsachen festhalten. Die Vernunft geht über dieses Gegebene hinaus und gibt unserem Streben eine Richtung. Die Vernunft hat Ideale. In der Theorie ist das Ideal eine Wissenschaft, in der keine Frage offen bleibt. Im praktischen Bereich zielen diese Ideale auf eine Welt ab, in der das moralische Gesetz vollkommen verwirklicht würde. Diese Vernunftideale leiten unser Handeln, geben ihm eine Richtung vor, orientieren es. Ohne diese Ideale ist der Verstand blind.

Dann wäre die Vernunft als das Vermögen, ideale Einheiten und Vollkommenheit zu denken, die philosophisch eigentlich ausschlaggebende Komponente. Deshalb auch die ausführliche, kritische Untersuchung derselben?

Ja. Man liest ja häufig nur die ersten 200 Seiten des Werkes, in dem es verstärkt um den Verstand geht. Ich gebe zu, die sind schwieriger, verstiegener, nicht gerade einfach, und irgendwann, wie ich immer wieder mit großer Kümmernis erfahre, gibt der Leser dort dann auch auf. Trotzdem hoffe ich noch immer, dass sich meine Schriften mit etwas Einsatz auch dem breiten Verständnis öffnen. In den hinteren Teilen der Kritik geht es, wie später in der Kritik der praktischen Vernunft auch, verstärkt um Moral und Religion.

Das Glück scheint Ihnen im Zusammenhang mit dem guten Handeln weniger wichtig

Das Glück darf nicht die eigentliche Motivation des guten Handelns sein. Worum wir uns als sittliche Menschen bemühen müssen, ist Glückswürdigkeit.

Inwiefern unterscheidet sich Ihr kategorischer Imperativ „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ eigentlich von der guten alten goldenen Regel „Was du nicht willst, was man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu“?

(winkt ab) Das hat man mir ja schon damals, gleich nach der Veröffentlichung vorgeworfen, dass da kein wesentlicher Unterschied bestehe. Ich verstehe den Einwand gar nicht. Wer möchte denn schon ein wirklich neues Moralgesetz anbieten? Was ich erhofft habe, war eine durchdachte, formalisierte und fundierte Bestimmung guten und richtigen Handelns. Der kategorische Imperativ ist ferner, und darauf muss ich immer wieder bestehen, kein Ersatz für das „selbst Denken“. Im Gegenteil, er soll helfen, das eigene, verantwortliche Handeln zu orientieren und zu präzisieren.

Die Freiheit, die Sie meinen, ist die Freiheit, sich nach dem moralischen Gesetz zu richten, es zu achten. Eine vernünftige Selbstbindung also.

Natürlich. Was auch sonst? Etwa eine Entbindung, in der man jeder Empfindung, jedem Trieb, jeder Leidenschaft ausgeliefert bliebe?

Die Rede vom autonomen Subjekt, die eng mit Ihrer Philosophie verknüpft ist, wurde im 20. Jahrhundert wiederholt und heftig kritisiert. Können Sie das nachvollziehen?

Kaum. Die modischen Denker, die solche Thesen vortragen, schreiben ja meist noch unverständlicher als ich selbst. Eigentlich weiß ich die Rede vom Tod des Subjekts nicht einmal bei Hume ernst zu nehmen. Selbst sein brillant klarer Stil kompensiert nicht die Unsinnigkeit der Behauptung. Denn auch er hat die Bedingungen seiner eigenen Behauptungen gar nicht untersucht. Allein schon, um bestimmte Behauptungen überhaupt aufstellen und vertreten zu können, ist die Rede vom „Ich“ und dem Subjekt unvermeidlich.

Dann ist die Rede vom Tod des Subjekts also schlicht selbstwidersprüchlich.

Ich sehe das so.

Eine aufgeklärte Vernunfthoffnung, sagen Sie, ist Ihnen das Wichtigste. Würden Sie sich selbst als Optimisten bezeichnen?

Ich bin vom Gemüt her eher Melancholiker. Sieht man sich aufmerksam um, so gibt es ja kaum einen empirischen Anlass zur Hoffnung. Die Welt sieht doch oft zum Verzweifeln aus. Selbst mein Liebling Rousseau, der vom edlen Wilden und dem guten Naturzustand schwärmte, wurde ja schon zu meiner Zeit durch Berichte über Kannibalismus und manch andere Grausamkeiten fremder Stämme zumindest empirisch widerlegt. Und spätestens seit seiner Zivilisationskritik wissen wir, dass Grausamkeiten in der zivilisierten Gesellschaft nicht vergehen, sondern nur anders aussehen. In jedem Fall aber sind und bleiben wir zur Moralität befähigte Wesen. Denn wenn man etwas unbedingt soll – im Sinne eines Handelns nach dem kategorischen Imperativ – dann ist es eben auch möglich, so handeln zu können.

Sie sind auch ein politischer Vordenker. Als einer der ersten haben Sie sich für eine politische Einheit der Vernunft in Form einer rechtlich gebundenen Völkergemeinschaft stark gemacht. Im 21. Jahrhundert scheinen wir gerade diesem Ideal nicht näher zu rücken.

Die heutige Zeit hat eine wirklich bizarre Vorstellung von unseren Schriften und Vorstellungen. Wir wussten schon damals genau, wie schlecht es um die Idee des Fortschritts steht. Nehmen sie Voltaires Werk „Candide“. Voltaire war ja einer der treibenden Kräfte der Aufklärung, seine Satire ist nicht gerade von Zuversicht und blindem Forschrittsglauben geprägt. Wir wussten, wie schlimm es sein und werden könnte. Aber bis heute wurde doch einiges erreicht, was damals nur eine Hoffnung war. Zum Beispiel gibt es in der westlichen Welt keine öffentlichen Hinrichtungen mehr, es wird nicht mehr gefoltert, Menschenhandel ist verboten, das sind alles deutliche Zeichen eines Fortschritts. Und obwohl ich mir nicht schlüssig bin, ob ich selbst es für einen Fortschritt halten soll, so glauben Sie doch sicherlich, dass die zunehmende Gleichstellung der Geschlechter ein gesellschaftlicher Fortschritt ist. Wir sind heute weiter als damals.

Es gibt immer wieder Ereignisse, die diese Hoffnung in die Vernunft tief erschüttern. Naturkatastrophen wie zu Ihrer Zeit das Erdbeben von Lissabon, insbesondere aber auch das, was Menschen anderen Menschen bewusst antun, Auschwitz, der Gulag und Hiroshima stehen im 20. Jahrhundert für solche Erfahrungen. Welche Rolle spielen diese Erschütterungen für die Philosophie?

Ich bin überzeugt, dass es gerade solche Situationen und Ereignisse sind, die den normalen Mensch zum Philosophieren bringen. Das Staunen ist sicher ein Anfang der Philosophie. Es kann und sollte aber auch der Schrecken sein.

Auf den Schrecken sind viele Reaktionen möglich. Wir erleben in Teilen der westlichen Welt derzeit einen Rückfall in Argumentations- und Denkweisen, die weit hinter die Aufklärung zurückfallen. Eine Theologisierung der politischen Rhetorik, wenn nicht der Politik selbst. Besorgt Sie das?

Es besorgt mich sogar sehr. Damals wie heute besteht die vielleicht größte Gefahr darin, dass die Kräfte der Aufklärung unter sich zerstritten sind, dass die Linke oder auch die Linksliberalen – was wir die Partei der Aufklärung nannten –, sich in Tausende kleine Parteien und Positionen zersplittern. Es ist wirklich an der Zeit, sich entschlossen zu dem zu bekennen, was durch die Aufklärung erreicht wurde. Nur so können wir diese Errungenschaften auch für andere glaubwürdig machen.

Herr Kant, mit dem Ruf der Aufklärung steht es nicht zum Besten. Und auch Sie selbst haben ein handfestes Imageproblem, gelten allgemein als Kauz, Alleszermalmer und regelbesessener Pedant. Verstehen Sie das?

Überhaupt nicht. Ich bin nun mal kein Schriftsteller, das ist nicht zu ändern. Ach, hätte ich nur die sprachliche Eleganz eines David Hume …

Frauen scheinen in Ihrem Leben die gleiche Rolle zu spielen wie in der Philosophie, nämlich keine.

Ich kam aus bescheidenen Verhältnissen, da war an dergleichen zunächst nicht zu denken. Als ich mir den Ehestand dann hätte leisten und zumuten können, war es für mich eigentlich schon zu spät. Was sonst noch war oder gewesen sein mag, verrate ich Ihnen nicht.

Es war also nicht eine Entscheidung in dem Sinne: das Werk oder die Ehe?

Die Frage hat sich so nicht gestellt.

Ein Wort zur Rolle der Frau in der Geschichte der Philosophie.

Ich sehe in ihrer Absenz keinen Mangel, wäre vielleicht aber auch bereit, mich überraschen zu lassen.

Herr Kant, einen unsterblichen Denker dürfen wir abschließend fragen. Haben Sie Angst vor dem Tod?

(lange Pause) Ja. Klar.

In die Rolle von Immanuel Kant schlüpfte Susan Neiman. Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger.

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