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Gesundheit: Das verwunschene Haus

Efeu und Bücherschätze: Erinnerungen an die Deutsche Staatsbibliothek

Als die SED nach dem Grundlagenvertrag daranging, die gesamtdeutschen Bezüge aus der DDR-Verfassung zu tilgen und das „deutsch“ bei zahlreichen Institutionen in den Staatsnamen zu verlegen, blieben zwei Berliner Häuser verschont: Unter den Linden blieb es bei der Deutschen Staatsoper und bei der Deutschen Staatsbibliothek, die als „die bedeutendste wissenschaftliche Bibliothek“ des Landes firmierte. Das Preußen von 1910 hatte mit dem imponierenden Komplex, dessen Stilistik sich auf den Vorgängerbau der Architekten Nering und Boumann bezog, die Bedeutung demonstriert, die das prosperierende Land der Wissenschaft beimaß. Deutschland war zu dieser Zeit eine wissenschaftliche Weltmacht, deren Buchexport den Umfang der Inlandsverkäufe überstieg.

Der sich aus Krieg und Zerstörung mühsam herausarbeitende Staat des „wissenschaftlichen Sozialismus“ behandelte seine Bibliotheken stiefmütterlich. In der Leipziger Universitätsbibliothek blieb ein Bombeneinschlag ein halbes Jahrhundert unbehoben. Die Sächsische Landesbibliothek musste sich mit dem Notquartier einer alten, oberirdischen Kaserne begnügen, ehe die neue Zeit sie in eine neue, unterirdische Kaserne versetzte.

Im Innenhof der Deutschen Staatsbibliothek aber stand dreißig Jahre lang die von Bomben nur versehrte, nicht zerstörte Ruine des großartigen alten Hauptlesesaals. Statt ihn wiederherzustellen, riss man ihn in den 70er Jahren ab und stellte zwei ungestalte Büchersilos in den Hof. Deren Beton-Rohbau weicht nun einem neuen Lesesaal, dessen stimmungsvoller, zum Lesen animierender Behaglichkeit die Leser schon entgegenfiebern.

Doch waren dem ramponierten Altbau im Lauf der Zeit zwei schöne Lesesäle eingesetzt worden, holzgetäfelt und überaus brauchbar alle beide, der musik- wie der geisteswissenschaftliche Lesesaal. Mit zwei erhaltenen alten Sälen bildeten und bilden sie einen stimmigen Kontrast. Hilfreiche Bibliothekare walteten hier ihres Amtes. Ich habe sie – es gab auch andere – auf allen Ebenen des Hauses angetroffen. Wie hätte ich eine Edition des „Zauberflöten“-Textes ohne die Möglichkeit unternehmen sollen, die Originalpartitur mit Schikaneders Libretto-Druck zu vergleichen? Die DDR hatte das kostbare Autograph aus Krakau nicht durch das Geltendmachen von Rechtsansprüchen erhalten, sondern durch einen stillen Austausch von Geschenken.

Die Deutsche Staatsbibliothek war bei all ihren Mängeln ein verwunschener Ort. Das folgte schon aus der genialen Idee des Architekten, den Eingang – er öffnet sich hinter einer schweren, metallbeschlagenen Pforte – hinter einen Brunnenhof zu legen, wo man in der wärmeren Jahreszeit rasten, plaudern, lesen kann. Die beiden Standbilder in den hoch gelegenen Fassadennischen wuchsen, von Weinlaub überwuchert, immer wieder zu, was den märchenhaften Charakter dieses Bücherschatzhauses verstärkte. Mit Fotos, mit einem Gedicht sogar habe ich diese naturwüchsige Verkleidung begleitet und kürzlich mit Bestürzung bemerkt: Man hat die beiden freigeschnitten. Nackt und bloß fristen sie ihre Nischenexistenz.

Ein Haus der Kontraste, ein Haus voller Widersprüche und eben darin ein lebendiges, atmosphärereiches Haus, in dem man Dinge fand, deren man sonst nirgendwo habhaft wurde. Mein Freund, der Komponist, fällt mir ein, dem sein Berufsverband die Mitgliedschaft verwehrte, da er fern aller Correctness stand. Er ertrotzte sich diese Mitgliedschaft, indem er den in der Staatsbibliothek ausliegenden Musikzeitschriften die Anzeigen internationaler Kompositionswettbewerbe entnahm und diese dann mit seinen Arbeiten beschickte. Er bekam Preise aus Tokio und aus Rom, und eines Tages musste der widerstrebende Verband ihn dann aufnehmen.

Heute ist alles viel einfacher. Man bestellt vom häuslichen Computer aus, und neben der Bücherausgabe im zweiten Stock befindet sich ein großer Kopierraum, der dafür aufkommt, dass man die Bücher nicht mehr schwarz auf weiß nach Hause tragen kann. Und in Zukunft soll alles Bestellte binnen zwanzig Minuten an der Bücherausgabe sein? Hoffentlich nicht nur im neuen Lesesaal.

Der Autor lebt und arbeitet als Schriftsteller und Publizist in Berlin-Treptow. Er ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Zuletzt erschien „Diesen Kuss der ganzen Welt! Der junge Mann Schiller“ (Insel-Verlag, 2005).

Friedrich Dieckmann

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