zum Hauptinhalt

Gesundheit: Der Arzt als williger Vollstrecker Die Kassen und die NS–Zeit

Als die Ärztekammer Berlin sich 1983 mit der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen begann, „sah sie sich harschen Attacken seitens der Kassenärztlichen Vereinigung ausgesetzt", sagt deren heutiger Vorsitzende Manfred Richter-Reichhelm. Fast zwanzig Jahre später, vergab dieselbe „KV" jetzt einen für sie höchst ungewöhnlichen Forschungsauftrag.

Als die Ärztekammer Berlin sich 1983 mit der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen begann, „sah sie sich harschen Attacken seitens der Kassenärztlichen Vereinigung ausgesetzt", sagt deren heutiger Vorsitzende Manfred Richter-Reichhelm.

Fast zwanzig Jahre später, vergab dieselbe „KV" jetzt einen für sie höchst ungewöhnlichen Forschungsauftrag. Als erste der regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen Deutschlands lässt sie ihre Rolle im „Dritten Reich" untersuchen, so wie dies zahlreiche Institutionen bereits taten. Dabei sucht sie Antwort auf Fragen wie: Warum ließ sich die Ärzteschaft 1933 so rasch „gleichschalten"? Wie verhielt sich die Körperschaft der Kassenärzte in Berlin bei der Unterdrückung und Vertreibung der jüdischen Kollegen?

National bis nationalistisch

Der Anstoß für das Projekt kam von der „Organisation Jüdischer Ärzte und Psychologen in Berlin". Gemeinsam mit ihr sowie mit Berliner und Greifswalder Medizinhistorikern bildete die KV Berlin eine Arbeitsgruppe. Im Rahmen einer Vortragsreihe beschrieb der Historiker Gerhard Baader, dass ein großer Teil der Ärzteschaft die Weimarer Republik ablehnte und national bis nationalistisch, oft auch antisemitisch eingestellt war. Schon 1929 wurde ein „Nationalsozialistischer Deutscher Ärztebund" gegründet, und später waren 45 Prozent aller Ärzte Mitglied der NSDAP, mehr als Angehörige anderer Berufe.

Die rassehygienischen Ideen der Weimarer Zeit wurden von nationalsozialistischen Ärzten umgesetzt, die schätzungsweise 350 000 Menschen zwangsweise sterilisierten und 250 000 Behinderte oder chronisch Kranke töteten, so der Historiker Rolf Winau. Und auch heute gebe es Tendenzen zu einer „Eugenik von unten". „Wird sich mit der Einführung der Präimplantationsdiagnostik in der Gesellschaft die Überzeugung verfestigen, dass Behinderte lebensunwertes Leben darstellen?" fragte Winau. In der Eugenik-Debatte sei auch vor 1933 schon immer wieder auf die Kosten durch die Pflege der unproduktiven „Ballastexistenzen" hingewiesen worden, während der Nazizeit sogar in den Rechenbüchern der Schulkinder.

Rationierung von Leistungen

Das schien den zuhörenden Ärzten besonders unter die Haut zu gehen. Denn wegen der Mittelknappheit im Gesundheitswesen sei die Diskussion über Rationierung medizinischer Leistungen - beschönigend „Priorisierung" genannt - in vollem Gange, sagte ein Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Ärzteschaft. Dass den Patienten keineswegs nur Unwirksames und Überflüssiges vorenthalten wird, zeigt die Entwicklung in England, wo es - inoffizielle - Altersgrenzen etwa für die Dialyse gibt. Den Berliner Kassenärzten geht es bei ihrem Forschungsvorhaben auch um die Zukunft, um die Diskussion über Gen- und Stammzellenforschung, Klonen und Präimplantationsdiagnostik.

Von der Vergangenheit jedenfalls weiß der ärztliche Nachwuchs kaum noch etwas, ergab eine Befragung von 332 Medizinstudierenden der Charité. So war nur 13 Prozent von ihnen bekannt, dass die Ärzteschaft die Berufsgruppe mit dem höchsten Anteil von NSDAP-Mitgliedern war. Die meisten der Befragten wünschten sich aber, mehr über die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus zu erfahren, als ihnen das Studium vermittelt. Rosemarie Stein

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false