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Gesundheit: Der Sinn im Wahnsinn

Warum in den Erbanlagen für psychische Störungen ein verborgener Segen liegen könnte

Die Mutmaßung, dass psychische Störungen eine genetische Basis besitzen können, löst bei vielen Widerwillen, ja auch Empörung aus. Dahinter steckt die Besorgnis, dass man die vermeintlich unheilbar „Erbkranken“ als genetisch minderwertig diskriminiert. Jetzt bringt die junge, provokante Disziplin der evolutionären Medizin mit neuen Argumenten frischen Wind in die alte Diskussion: Erbfaktoren, die psychische Störungen und seltene Varianten verursachen, rufen womöglich durch die Hintertür vorteilhafte Wirkungen hervor.

Mit Zwillings- und Adoptionsstudien haben die Verhaltensgenetiker in den letzten Jahren einen klaren Trend aufgedeckt: Bei praktisch allen psychischen Störungen gibt es eine genetische Anlage, die das Risiko für den Ausbruch der Krankheit erhöht. Den Medizinern, die sich dem evolutionären Denken verpflichtet fühlen, gibt dies jedoch ein Rätsel auf: Kein Zweifel, dass etwa eine Geisteskrankheit beim Kampf ums Dasein und bei der Verbreitung der eigenen Gene Nachteile bringt. Wie kann sich eine Erbanlage in der Bevölkerung halten, die ihren Trägern doch so offensichtlich die Fitness raubt?

Charismatische Anführer

Die Lösung des Rätsels könnte darin liegen, dass eine „verminderte Dosis“ der Erbanlage ihren Trägern einen Vorteil verschafft, behauptet der Psychiater Manfred Spitzer von der Universität Ulm. Es gibt Genvarianten, die Vorzüge besitzen, wenn sie „heterozygot“ (mischerbig) sind, also nur in einer Ausgabe des doppelten Chromosomensatzes vorkommen. Reinerbige („homozygote“) Träger, die das Gen von beiden Elternteilen erben, bekommen dagegen nur die krankhaften Nachteile dieser Anlage zu spüren.

Das bekannteste Beispiel für die so genannte heterozygote Fitness ist das Gen für die Sichelzellenanämie. Personen, die diesen mutierten Erbfaktor nur an einem der beiden Genorte tragen, zeichnen sich durch erhöhte Widerstandskraft gegen Malaria aus. Diese Kombination findet sich daher gehäuft in den Regionen von Afrika, in denen auch die Malaria grassiert. Auch der Erbfaktor für die Mukoviszidose, einer Krankheit, die den Schleim dickflüssig macht, besitzt nach neuen Ergebnissen einen verborgenen heterozygoten Fitnessvorteil: Sie hebt die Widerstandskraft gegen Durchfallkrankheiten an. In beiden Fällen verschwindet der Erbfaktor deshalb nicht aus dem Genpool, auch wenn er – wenn er gleich doppelt vorliegt – eine arge Krankheit auslöst.

Ein ähnlicher Mechanismus wird laut Spitzer neuerdings auch für psychische Krankheiten diskutiert. Die Schizophrenie, die unheimlichste aller Geisteskrankheiten, bringt Menschen buchstäblich um den Verstand. Die Patienten hören und sehen Dinge, die es nicht gibt. Der Wahn lässt beispielsweise die Antennen auf den Dächern als Abhöranlagen erscheinen.

Es gibt mehrere Theorien darüber, welchen Segen eine „abgeschwächte“ Form der Schizophrenie bringen könnte. Bezeichnend ist, dass im familiären Umfeld der Kranken häufig verwandte Störungsbilder vorkommen, zu denen die „schizotype Persönlichkeit“ gehört. „Menschen mit entsprechenden Eigenschaften neigen dazu, Dinge wahrzunehmen beziehungsweise an Dinge zu glauben, die es nicht gibt (Ufos, Magie, Telepathie und unter anderem auch so manches nachgewiesen wirkungslose medizinische Behandlungsverfahren), sich sprachlich umständlich oder mit ganz neuen Wortschöpfungen auszudrücken.“ Weil sie obendrein eine Tendenz zu Unnahbarkeit und Misstrauen besitzen, ziehen diese Menschen sich oft aus der Gesellschaft zurück.

Manchmal passiert aber auch das Gegenteil. „Wenn die Gruppe einen charismatischen Führer braucht und wenn die Person mit schizotypen Merkmalen erst einmal in diese Rolle kommt, dann kann die Person unglaublich viel bewirken, gerade weil sie diese Eigenschaften besitzt.“ In der Entwicklung zum modernen Menschen kam es immer wieder vor, dass Gruppen sich teilten und unter Leitung eines „abtrünnigen“ Führers neue Lebensräume erschlossen. Personen mit entsprechenden Eigenschaften können daher für die Gruppe richtungsweisend sein, auch wenn die gleichen Merkmale in anderen Situationen völlig „abwegig“ sind.

Es gibt noch andere Theorien über die schizoiden Gene. Vielleicht erhöhen sie die Kreativität oder schärfen die Fähigkeit einer Person, intuitiv zu erfassen, was in einem anderen vor sich geht. Auch der begnadete Mathematiker John Nash, der an Schizophrenie litt, zeigt, wie nah Genie und Wahnsinn liegen können (im Film „A beautiful mind“ von Russell Crowe dargestellt, siehe Bild oben). Manche Forscher vermuten, dass die Tendenz zum Misstrauen selbst schon zu einem gewissen Grad die Nachteile einer Schizophrenie aufwiegt.

Affektive Krankheiten, besonders die Depression, rufen extrem viel Leid hervor. Für den manischen Überschwang, der die Opfer der „bipolaren“ Depression überfällt, lässt sich allerdings auch ein versteckter Nutzen finden. Spitzer: „Die Episoden können für den Betreffenden äußerst produktiv sein, von den Erfolgen kaum schlafender Geschäftsleute über die Produktionen mancher Künstler bis zu den Nachkommen mancher diesbezüglich hyperaktiver Menschen.“ Beispielsweise gab es einen Maniker, der es schaffte, während seines Aufenthaltes auf der geschlossenen Station einen roten Porsche vor die Tür – also an die Adresse der Psychiatrie – geliefert zu bekommen.

Nach einer Theorie hält eine leichte depressive Verstimmung Menschen davon ab, einen eingeschlagenen, aber erfolglosen Kurs weiter zur verfolgen. Leichte Depressionen fordern zum Einhalten und Nachdenken und regen die Motivation zu einem produktiven „Kurswechsel“ an. Möglicherweise liegt darin die „heterozygote Fitness“ – während die schwere Depression die homozygote Variante darstellt.

Zwangskranke, die ständig alles kontrollieren, prüfen und abchecken, sind extrem auf Sicherheit bedacht. In ihrer Extremform bringt die Zwangskrankheit wieder unerträgliches Leid für die Patienten mit sich. Ein Schuss Zwanghaftigkeit jedoch hat möglicherweise zum ersten Mal Vorteile mit sich gebracht, als der Mensch begann, Nahrungsmittel und Besitztümer zu horten. Vielleicht haben die Zwanghaften ihre Speicher besser geschützt.

Farbenblinde sehen schärfer

Genetische Anlagen können auch dann vorhanden bleiben, wenn sie nur in einer bestimmten Umwelt oder in bestimmten Phasen Vorteile bringen. So haben furchtlose Murmeltiere im normalen Klima mehr überlebensfähige Nachkommen als scheue Tiere. In sehr kalten Wintern wendet sich das Blatt, und die ängstlichen Tiere haben aus unbekannten Gründen plötzlich den größten Fortpflanzungserfolg. Die Gene für beide Eigenschaften bleiben erhalten.

Der Mechanismus kommt auch beim Menschen vor. So haben Forscher erst kürzlich nachgewiesen, dass Farbenblinde in der Dämmerung schärfer sehen. „Daraus lässt sich ableiten, dass es in den Tropen (wo die Sonne senkrecht untergeht und die Dämmerung daher nur kurz ist) wenig Farbenblinde geben sollte, in den Polargebieten (mit sehr schräg untergehender Sonne und dadurch bedingter sehr langer Dämmerung) jedoch viele“, stellt Spitzer fest. Und tatsächlich: Während die Häufigkeit der Rotgrünblindheit am Äquator bei etwa einem Prozent liegt, beträgt sie in Polargebieten bis zu acht Prozent. Nur in Gegenden wie Nordnorwegen lohnt es sich auch, farbenblind zu sein.

Rolf Degen

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