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Gesundheit: Die letzten Akrobaten der Lüfte

Mehrere Gibbon-Arten sind vom Aussterben bedroht, doch für ihren Schutz setzt sich kaum jemand ein – ein Imageproblem?

Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen und Bonobos zählen zu unserer lieben Verwandtschaft. Aber zwei Drittel aller Menschenaffenarten gehören zur Familie der Gibbons. „Sie werden von den Medien und Naturschutzorganisationen weitgehend ignoriert“, sagt Thomas Geissmann vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich. Obschon mindestens drei, vielleicht sogar fünf der zwölf Gibbonarten deutlich stärker bedroht sind als die großen Menschenaffen. „Die Naturschutzaktivitäten sollten sich an dem tatsächlichen Bedrohungsgrad und nicht an der Popularität einer Tierart orientieren“, sagt der Primatenforscher.

Dabei folgt die so gescholtene Öffentlichkeit den strengen Gesetzen der Verwandtschaft: Ganz oben auf der Beliebtheitsskala stehen die Schimpansen, deren Gene bis zu 98 Prozent mit den unsrigen übereinstimmen. Allerdings ist es schon sechs Millionen Jahre her, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse durch die afrikanischen Wälder zog. Gorillas spalteten sich vor ungefähr neun, Orang-Utans vor 16 und Gibbons vor etwa 19 Millionen Jahren ab. Sie alle gehören zur Gruppe der Hominoiden. Diese Elite vom „Planet der Affen“ ist schwanzlos und kaut auf fünfhöckrigen Backenzähnen mit charakteristischem Muster.

Doch unter den Menschenartigen haben die Gibbons offenbar ein Imageproblem. Wegen ihrer geringen Körpergröße, den langen Armen und der Lebensweise in den unzugänglichen Baumwipfeln der Regenwälder werden sie von Laien nicht als Menschenaffen erkannt. Auch der Vietnamkrieg und die politische Instabilität in einigen Staaten Südostasiens haben dazu beigetragen, dass sich vergleichsweise wenige Tierfilmer, Fotografen und Forscher für die kleinen Menschenaffen interessieren.

„Bei den Gibbons stehen mehrere Arten vor der Ausrottung“, sagt Geissmann. Am schlimmsten steht es um den Östlichen Schwarzen Schopfgibbon. Im Herbst 2000 konnte Geissmann mit einheimischen Helfern im Nordosten Vietnams gerade noch 27 Tiere aufspüren. Eine zweite Restpopulation lebt auf der Insel Hainan im südchinesischen Meer. Im dortigen Bawangling Nationalpark organisierte der Schweizer Primatologe im Oktober 2003 die vermutlich größte Gibbonsuche aller Zeiten. Unterstützt wurde er dabei von der Kadoorie Farm, einer ökologisch ausgerichteten Agrarorganisation aus Hongkong.

Bevor es in den Wald ging, unterrichtete Geissmann 40 Parkwächter, die aus verschiedenen chinesischen Landesteilen zusammengekommen waren. Er brachte ihnen bei, wie man Positionen bestimmt, Entfernungen schätzt und den Gibbongesang erkennt. Denn wer die kleinen Menschenaffen zählen will, braucht vor allem ein geschultes Gehör. Ähnlich wie viele Vögel markieren sie ihr Territorium durch komplexe Gesänge. Mit ihrer Hilfe kann der Fachmann nicht nur die Art und Unterart, sondern auch das Geschlecht der Tiere bestimmen. Da männliche und weibliche Schopfgibbons im Duett singen, lassen sich Kleinfamilien und Einzeltiere schon von weitem unterscheiden.

15 Beobachtungsteams zogen 16 Tage lang durch den Wald, orteten die Rufe und versuchten, möglichst nahe an die Tiere heranzukommen. Nach der Auswertung aller Gesangspeilungen, Sichtungen und Fotos stand fest, dass im Nationalpark nur noch 13 Gibbons leben, zwei Familiengruppen und zwei allein stehende Männchen. Unter dem Strich bleiben vom Östlichen Schwarze Schopfgibbon noch etwa 40 Tiere übrig. „Dieser Gibbon ist vermutlich die seltenste Affenart der Welt“, sagt Geissmann.

Sind die vergessenen Menschenaffen uninteressant? Oder nur unerforscht? Studien über Schimpansen, Gorillas und Co. sind auf Fachkongressen bis zu 50-mal häufiger vertreten als Arbeiten über Gibbons. Die Akrobaten der Lüfte hätten mehr Zuschauer verdient. Als einzige Gruppe im Tierreich beherrschen sie die effiziente Technik des Schwinghangelns.

Außerdem: Kein anderer Menschenaffe bewegt sich am Boden ausschließlich aufrecht auf zwei Beinen. Auch ihr monogames Sozialsystem ist einzigartig in der näheren Verwandtschaft des Menschen. Und Männchen und Weibchen sind meist gleichberechtigt. Obwohl es eine Rollenverteilung gibt, kümmert sich der Gibbonmann ausdauernd und intensiv um den gemeinsamen Nachwuchs. Davon können Orang-, Schimpansen- oder Gorillaweibchen nur träumen.

Interessanterweise scheinen alle singenden Affen, also Indris, Sulawesi-Kobaldmakis, Springaffen und Gibbons, eine monogame Sozialstruktur zu bevorzugen. „Die meisten dieser Arten singen im Duett“, erklärt Geissmann. Auch bei den Vögeln sei das Duettsingen im Wesentlichen an die Einehe gebunden.

Wer die Evolution der Monogamie oder des Duettgesangs verstehen will, kommt also an den Gibbons nicht vorbei. So konnte Geissmann nachweisen, dass die Gesänge der Gibbons und die Musik der Menschen ursprünglich aus den selben, vermutlich Gruppen definierenden Ruftypen ihrer gemeinsamen Vorfahren hervorgegangen sind. Wir könnten also von den kleinen Menschenaffen lernen, wie Musik entsteht und welche Funktionen sie erfüllt. Man denke dabei nur an die rhythmischen Gesänge der Schlachtenbummler oder die identitätsstiftende Wirkung von Nationalhymnen.

Um den Teufelskreis von öffentlichem Desinteresse, mangelnden Forschungsgeldern und fehlenden Naturschutzinitiativen zu durchbrechen, hat Geissmann im Februar 2004 die „Gibbon Conservation Alliance“ gegründet. Der Verein soll die Menschenaffen in der Öffentlichkeit bekannt machen und Sponsoren finden, die sich für die Erforschung, Schutz und Erhalt ihrer Lebensräume engagieren.

Mathias Orgeldinger

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