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Gesundheit: Die Meinungen der Teilnehmer und Organisatoren sind komplex und widersprüchlich - deutsche und Israelis demonstrieren für ein Mahnmal

Gleich zu Beginn des Gesprächs droht das Interview zu platzen. "Ich weiß jetzt, dass Du mich als einen Untermenschen darstellen wirst", sagt Hagai Aviel, der Vorsitzende der israelischen "Vereinigung gegen Psychiatrie-Missbrauch".

Gleich zu Beginn des Gesprächs droht das Interview zu platzen. "Ich weiß jetzt, dass Du mich als einen Untermenschen darstellen wirst", sagt Hagai Aviel, der Vorsitzende der israelischen "Vereinigung gegen Psychiatrie-Missbrauch". Der 41-Jährige ist enttäuscht, fast traurig. Auf seine Forderung, sich schriftlich zu verpflichten, ihn und die anderen Vereinsmitglieder nicht als "Geisteskranke" oder "Zwangsinternierte" zu bezeichnen sondern als "willkürlich eingesperrte Opfer der Psychiatrie", war der Reporter nicht eingegangen. Aus Prinzip. Dann aber siegt Aviels Interesse an der Öffentlichkeit über sein Misstrauen gegenüber Journalisten. Was folgt, ist eine lange Rede, die unter dem Titel stehen könnte: mein Kampf gegen die Zwangspsychiatrie.

Dennoch vergeht eine weitere Stunde, bis Aviel beginnt, Fragen konkret zu beantworten. Offenbar fällt es ihm schwer, über seine traumatischen Erfahrungen mit der Psychiatrie zu sprechen, über seine Zwangsinternierung als 15-Jähriger (er spricht von "Entführung" und "Verhaftung") auf Initiative seiner Mutter, nachdem er das Gymnasium verlassen und sich in seinem Zimmer eingesperrt hatte. Eine zweite Internierung mit 26 Jahren konnte er verhindern. "Inzwischen hatte ich mehr Freunde und seelische Kraft", sagt er.

Doch mit dem Stigma eines Paranoid-Schizophrenen kämpft er bis heute, zum Teil mit Selbstironie: "Ich bin paranoid und werde von Psychiatern verfolgt", steht auf einem Sticker seiner Vereinigung. Der Humor mag ihm helfen. Denn ohne Militärdienst und akademische Ausbildung konnte der ausgebildete technische Zeichner in Israel keine feste Stelle bekommen und ist auf staatliche Unterstützung angewiesen. Seit 1995 kämpft er unermüdlich und laut gegen die Zwangspsychiatrie und für die Rechte ihrer "Opfer" - durch Pressemitteilungen, Flugblätter und die Zeitung "Kfiya" (zu deutsch: "Zwang"). Sie hat acht Seiten und erscheint zweimal im Jahr. In "Kfiya" stehen Hinweise auf rechtliche Möglichkeiten der Zwangspsychiatrisierten. Außerdem liest man Berichte über deren zum Teil menschenverachtende Behandlung durch Psychiater. Aviel nennt sie "eine Gefahr für die Öffentlichkeit". Selbst der Vergleich zum Nazi-Arzt Josef Mengele fehlt nicht.

Vor kurzem entdeckte Aviel seine deutschen Leidensgenossen. Gemeinsam prangern sie nun Psychiater an, "die mit ihrer unmenschlichen Behandlung von Außenseitern der Gesellschaft die Grundlage der nationalsozialistischen Massenvernichtung bildeten". Obwohl ein Großteil seiner Familie von den Nazis ermordet wurde, folgte Aviel im April 1998 einer Einladung des "Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener" (BPE) an der Freien Universität Berlin. Dort nahm er an einem offenen Tribunal gegen die Psychiatrie teil. Die Aussagen einer Zeugin, die als Kind der Vergasung in der Anstalt Brandenburg im Rahmen der "Euthanasie" entkommen war, bewegten Aviel zutiefst. Also schloss er sich den deutschen Gegnern des Weltkongresses der Psychiatrie an, der am heutigen Freitag in Hamburg beginnt und zum ersten Mal in Deutschland stattfindet.

Auf der Gegenveranstaltung an der Hamburger Universität soll auch an die "Ermordung durch Hunger" von Tausenden Insassen psychiatrischer Anstalten in Deutschland zwischen 1945 und 1947 - unter den Augen der Alliierten - erinnert werden. Mit Slogans wie "Psychiatrie = Schutzhaft" sowie "Shrinks go home" will man für Wirbel sorgen. Die Kritiker monieren, dass die Organisatoren des Weltkongresses die Mitschuld der deutschen Psychiatrie am nationalsozialistischen Massenmord ausklammern.

Fast 180 000 "lebensunwerte" Menschen haben die Nationalsozialisten von 1939 bis 1945 ermordet. Viele wurden als vermeintlich Erbkranke in Anstalten interniert und zwangssterilisiert. Diese Psychiatrie-Patienten, kranke Lagerinsassen oder unangepasste Menschen starben durch Exekutionskommandos und Hunger. Der Massenmord wurde im Zuge der "Aktion T4" nach dem Zentrum der Organisation in der Tiergartenstraße 4 benannt. Die Ärzte, die die Vergasungen in den psychiatrischen Anstalten organisierten, ebneten den Weg für die Ermordung der Juden sowie Sinti und Roma in den Konzentrationslagern.

An diese Verbrechen könnte demnächst das Museum "Haus des Eigensinns" in Berlin erinnern. Es soll am historischen Ort direkt neben dem Haupteingang der Philharmonie entstehen. Das Modell des Architekten Andreas Hierholzer - ein zweistöckiges, rundes Gebäude - soll neben einer Dokumentation über die "Aktion T4" auch die sogenannte "Prinzhorn-Sammlung" beherbergen. Die rund 6000 Werke psychiatrisierter Künstler wurden von den Nationalsozialisten als "entartete Kunst" beschlagnahmt und befinden sich heute im Besitz der Psychiatrie der Universität Heidelberg. Der BPE fordert die Herausgabe dieser Werke und eine staatliche Finanzierung für den Bau des Museums in Höhe von 1,75 Millionen Mark. Das wäre exakt die Hälfte der Gesamtkosten. Unterstützung erhalten die Mitglieder des BPE nach eigenen Angaben von Prominenten wie dem Rhetorik-Professor Walter Jens, dem evangelischen Bischof von Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, und dem Leiter der Gedenkstätte "Haus der Wannsee-Konferenz", Norbert Kampe.

Nachdem der Bundestag im Juni den Bau des Holocaust-Mahnmals ausschließlich für die ermordeten Juden beschlossen hat, fordern die 750 BPE-Mitglieder nun mit Nachdruck ihre eigene Gedenkstätte. Dass sie dabei vor den Wahlen im Herbst nicht mit der Unterstützung von Berliner Politikern rechnen können, wissen sie.

Igal Avidan

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