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Gesundheit: Die Natur – ein Computercode

Der amerikanische Physiker Stephen Wolfram nimmt Abschied von der Mathematik und entwirft ein neues Weltbild

Von Vasco Alexander Schmidt

Wenn wir von den zwei Kulturen sprechen, dann meinen wir meist den Gegensatz zwischen naturwissenschaftlichem und literarischem Weltverständnis. Doch es gibt noch einen anderen, weniger auffälligen Riss, der zwischen Mathematik und Informatik verläuft. Der kürzlich verstorbene Informatiker Edsgar W. Dykstra, der zuletzt an der University of Texas in Austin lehrte, sprach auch hier von zwei Kulturen. Hüben die Mathematiker mit ihren eleganten Formeln und geistreichen Beweisen. Drüben die Informatiker, eigentlich nur bessere Techniker, die an ihren Programmen herumbasteln, bis sie schließlich funktionieren.

Dykstra nun beanspruchte für seine Wissenschaft die gleiche Tiefe wie für die Mathematik. Sein Ideal war ein Denken, dass Probleme dreht und wendet, bis sich ihr Kern in ganzer Deutlichkeit zeigt und sich das Programm zu seiner Lösung praktisch von selbst entwickelt. Dykstra war ein Meister im Finden raffinierter Algorithmen, schrittweisen Anweisungen für Computer, die sich ganz auf das Notwendige beschränken und zwingend zum gewünschten Ergebnis führen. Er betrieb die Informatik mit einer Eleganz, die jener der Mathematik gleichkam.

Vor diesem Hintergrund liest sich Stephen Wolframs Bestseller „A new kind of science“, der bereits als „das“ Wissenschaftsbuch der Saison bezeichnet wurde, wie eine gezielte Provokation. Der amerikanische Physiker und Informatiker sehnt sich nämlich gerade nicht nach der Eleganz mathematischer Formeln, mit denen bis heute die wichtigsten Naturgesetze formuliert sind. Er reißt in seinem im Frühjahr in den USA erschienenen Buch die Brücken zwischen der Mathematik und der Informatik geradezu ein, denn Formeln sind für ihn eigentlich viel zu einfach, um die Natur zu beschreiben. Und der Witz der Informatik bestehe eben nicht darin, mit großer Kunstfertigkeit Programme zu schreiben, die sich vollständig durchdenken lassen.

Der Analyse verschlossen

Bei Experimenten am Computer habe er entdeckt, dass schon kleinste Programme so komplexe Ergebnisse hervorbringen können, dass sie sich nicht mehr mit Mathematik beschreiben lassen. Das Wesentliche der Natur sind deshalb nicht die regelmäßigen Muster, sondern etwas ganz anderes: ihre unfassbare Komplexität. Die Natur könne man deshalb als eine Art Computerprogramm verstehen, das man starten muss und dann in seiner Entwicklung nur beobachten kann, weil es sich jeder anderen Analyse verschließt.

So lässt sich Wolframs zentrale Idee, die er auf rund 1200 Seiten ausbreitet, grob zusammenfassen. Zudem ist dies eine recht nüchterne Inhaltsangabe für ein Buch, das von vielen fieberhaft erwartet und bei Erscheinen bereits überschwänglich gelobt wurde. Aber das scheint weniger an den Thesen des Autors als an dessen Biografie zu liegen.

Stephen Wolfram, der in England aufwuchs, begann seine Karriere als Wunderkind der theoretischen Physik, veröffentlichte seinen ersten Aufsatz mit 15 Jahren und promovierte mit 20. Ein Jahr später erhielt er mit dem MacArthur-Preis einen der wichtigsten Wissenschaftspreise in den USA. Mit Ende 20 verabschiedete sich Wolfram jedoch von der Wissenschaft und gründete eine Software-Firma. Er entwickelte „Mathematica“, ein Programm mit über einer Million Anwendern weltweit, das langwierige mathematische Berechnungen auf Knopfdruck erledigt und die Möglichkeit gibt, auch abstrakteste Strukturen in ansprechende Bilder zu gießen, was einem neuen, experimentellen Stil in der Mathematik Auftrieb gab.

Für sein Buch zog sich der heute 42-jährige schließlich erneut zurück und forschte mehr als zehn Jahre – weitgehend abgeschieden von anderen Wissenschaftlern – an jenen Objekten, die ihn schon in seinem Forscherleben faszinierten: den zellulären Automaten.

Das sind einfache Computerprogramme, die man selbst auf einem Blatt kariertem Papier mit dem Bleistift abarbeiten kann und die dennoch erstaunliche Eigenschaften zeigen. Man beginnt zum Beispiel mit einem schwarzen Kästchen in der Mitte und nimmt sich dann Schritt für Schritt der benachbarten Kästchen an. Diese werden nur dann schwarz ausgemalt, wenn eine bestimmte Zahl an Nachbarn – zum Beispiel weniger als zwei oder mehr als drei – ebenfalls schwarz sind. Nach und nach entsteht dabei ein Muster. Wenn man die Regeln etwas verallgemeinert und geschickt formuliert, produziert der zelluläre Automat das Bild einer Schneeflocke oder das Streifenmuster von Zebras. Und mit ähnlichen Automaten lassen sich die Windungen von Schneckenhäusern simulieren. Alles ohne mathematische Formeln.

Wie ein Biologe Tiere im Labor untersucht, hat Wolfram eine Vielzahl solcher zellulärer Automaten am Computer durchgespielt und dabei eine Entdeckung gemacht. Offensichtlich gibt es zelluläre Automaten, die vollkommen chaotische Muster erzeugen, obwohl sie ganz einfachen Regeln folgen.

Eine Beobachtung, die er in seinem Buch mehrfach mit Bildern belegt, aber freilich nicht beweisen kann. Wie sollte man auch zeigen, dass ein solcher Automat nach langen chaotischen Phasen nicht doch noch irgendwann regelmäßige Muster erzeugt? Wolfram, dem bewusst ist, dass ein Beweis fehlt, begründet seine Theorie genau so wie gelegentlich die Informatiker: Beim Experimentieren habe er die Gewissheit erlangt, dass seine These richtig sein muss. Die Leser, die den Zoo seiner zellulären Automaten nicht so genau kennen, müssen ihm glauben.

Machtlose Mathematik

Aufbauend auf den Programmen mit chaotischem Ergebnis formuliert er nun eine Art Naturgesetz, das er die Äquivalenz aller Computerberechnungen nennt. Dahinter steht die Annahme, dass sich die zellulären Automaten, die chaotische Muster hervorrufen, nicht „abkürzend“ mit Formeln beschreiben lassen. Die Mathematik sei machtlos, man müsse die Automaten starten und zusehen, wie sie sich entwickeln. Sie sind also so komplex, dass es komplexer nicht geht. Und genau dieses Phänomen taucht seiner Meinung nach überall in der Natur auf. Deshalb müsse jede mathematische Naturbeschreibung im Vergleich zu den zellulären Automaten notwendigerweise trivial sein, sozusagen ein unscharfer Schnappschuss einer viel höheren Komplexität.

Auch wenn sie nicht auf dem üblichen wissenschaftlichen Weg erzielt wurde, hat Wolframs Pointe zweifellos Charme. Sie erinnert ein wenig an die These von Richard Dawkins in dem Buch „Das egoistische Gen“: Gene werden nicht etwa von den Lebewesen weitergegeben, weil diese sich fortpflanzen wollen. Es ist umgekehrt: Die Gene wollen weiterleben und bewegen deshalb die Tiere dazu, sich fortzupflanzen. Ähnlich erfrischend ist auch Wolframs Gesetz über die Äquivalenz aller Computerberechnungen.

Weitergedacht stellt es ebenso einige Gedanken auf den Kopf: Nicht die Evolution bringt so komplizierte Spezies wie den Menschen hervor. Die Natur an sich ist schon komplex genug. Die Evolution vereinfacht die Dinge deshalb eher. Und zum menschlichen Geist: Natürlich haben wir einen freien Willen, denn das Gehirn ist mindestens so komplex wie die chaotischen Muster simpler zellulärer Automaten. Gedanken lassen sich deshalb nicht vorhersagen.

Gleichzeitig aber könnten hinter unserem Denken – genau wie bei den zellulären Automaten – nur ganz wenige und einfache Regeln stehen. Deshalb ist es auch gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir Computern das Denken beibringen können. Künstliche Intelligenz und freier Wille widersprechen sich also nicht.

Solche Spekulationen müssen freilich nichts mit einer neuen Art Wissenschaft zu tun haben. Sie könnten einfach nur gutes Feuilleton sein. Und wer gegen die Mathematik anschreibt, die sich in Naturwissenschaft und Technik als so nützlich gezeigt hat, muss sich auch etwas anderes sagen lassen: Warum soll die Welt noch komplexer als die Mathematik sein? Für die meisten von uns ist die Mathematik komplex genug. Und manchmal könnte sie auch ein wenig leichter sein.

Stephen Wolfram: A New Kind of Science. 1197 Seiten, gebunden. Wolfram Media, Champaign, IL (USA). 44,95 USD.

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