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Gesundheit: Die Wunden des Krieges heilen

Fahima ist fünf Jahre alt und kommt aus einem kleinen Dorf in Afghanistan. Bei einem Raketenanschlag der Taliban verbrannte der Großteil ihrer Haut. Um Opfer wie sie kümmert sich die Berliner Hilfsorganisation „Placet“.

Als die Rakete einschlug und alles in Brand setzte, war Fahima allein im Haus. Bis der Vater kam und sie aus den Flammen rettete, waren 60 Prozent ihrer Haut verbrannt. Fahima Abdul Hussein ist fünf Jahre alt und kommt aus dem Norden Afghanistans. Die Rakete hatten die Taliban abgeschossen. Seit vier Monaten liegt das Mädchen nun im Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der DRK-Klinik Westend. Wenn sie aufsteht, wird es voll in ihrem Zimmer. Die Pfleger, der Stationsarzt, der Zivildienstleistende, alle wollen zusehen, wenn Fahima läuft. Höchstens 15 Schritte am Stück, einmal durchs Zimmer, jemand muss ihre Hand halten. „Das sieht nach wenig aus“, sagt die Krankenschwester. „Aber wir feiern es als Event.“

Als Fahima eingeliefert wurde, konnte sie ihre Beine gar nicht bewegen. Die waren fest angewinkelt. Der rechte Arm genauso. Beugekontraktur nennt man das – schuld ist die Narbenbildung der verbrannten Haut: Das nachwachsende Gewebe neigt dazu, sich zu verhärten und zusammenzuziehen, die Kollagenfasern sind deutlich weniger elastisch als in der gesunden Haut. In der Folge bilden sich auch Muskeln, Sehnen, Bänder und Gelenkkapseln zurück – es kommt zur völligen Bewegungsunfähigkeit.

In Deutschland wäre es nicht so weit gekommen. Hier werden Brandopfer ins Verbrennungszentrum gebracht, die abgestorbene Haut und wenn nötig auch das darunterliegende Fleisch entfernt. Aber in ihrem Dorf in Afghanistan gibt es kein Krankenhaus und auch keinen Arzt. Ihre Wunden wurden nur mit feuchten Tüchern gekühlt.

Um Menschen wie Fahima Abdul Hussein kümmert sich die Hilfsorganisation Placet. Sie will Opfern von Terror und Krieg helfen, die in ihrer Heimat, meistens in der Dritten Welt, nicht versorgt werden. Fahimas Familie konnte es sich nicht leisten, das schwer verletzte Kind in eine größere Stadt zu bringen. Stattdessen haben sie sie ausgegrenzt. Sie wurde als Ballast empfunden. Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation vor Ort fand Fahima in einem Erdloch neben dem Haus.

Frank Peter hat Placet vor fünf Jahren gegründet. Der plastische Chirurg hat inzwischen eine Reihe von Ärzten um sich geschart, aus 15 Freiwilligen besteht der engere Kern, auch Augen- und Zahnärzte sind darunter. Die Berliner DRK-Kliniken stellen OP-Räume, Krankenzimmer und Pflege zur Verfügung.

Fahima kam alleine nach Deutschland. Eine Mitarbeiterin auf der Station spricht ihre Sprache, aber inzwischen lernt Fahima Deutsch. Sie kann sagen, ob sie ins Bett möchte oder zu ihrem Lieblingserzieher und ob sie lieber Frischkäse oder Joghurt essen möchte. Zwölf Mal wurde sie bisher operiert. Das wichtigste Ziel war, die Beine wieder bewegungsfähig zu machen, sagt Frank Peter. Deshalb hat er Metallschienen an ihren Beinen befestigt und diese dann Stück für Stück gestreckt. Jede Woche um 20 Grad. Muskeln, Sehnen, Blutgefäße und Gelenkkapseln weiten sich dabei mit der Zeit von alleine, die Streckreize regen die Bildung neuer Zellen an. Die vernarbte Haut tut das nicht. Deshalb musste der Chirurg an beiden Kniekehlen zwei untertassengroße Flächen Haut herausschneiden und neue einsetzen. Die nahm er von Fahimas Rücken, der einzigen großen, nicht betroffenen Körperstelle. Aber nur die obersten 0,2 Millimeter, gerade so viel, dass sich die Haut am Rücken von selbst regenerieren kann.

Vor Fahima hat Frank Peter schon die Narben von einem Mädchen aus Nigeria behandelt. Die Großmutter hatte ihr kochendes Wasser auf den Körper geschüttet. Als Erziehungsmaßnahme. Und dann war da die Frau mit großen Brandnarben an Hals, Händen und im Gesicht. Eine Strafaktion der ukrainischen Mafia. „Nach meinem Empfinden ist das ebenfalls Terror“, sagt Peter. Ab wann Verbrennungen der Haut tödlich sind, hängt nicht nur von der verbrannten Fläche ab. Anders als oft behauptet atmet der Körper nicht über die Haut. Aber er reguliert seine Temperatur sowie den Flüssigkeitshaushalt. Und Narben haben keine Schweißdrüsen. Außerdem können sich an den Wunden leicht Infektionen bilden. Die Verbrennung, die Schmerzen und die Narbenbildung sind eine extreme Stressbelastung, der Kreislauf kann zusammenbrechen. Es gibt eine grobe Faustregel, sagt Peter: Man addiert die Prozentzahl der verbrannten Haut mit dem Alter des Opfers. Liegt der Wert über 90, wird es die nächsten Wochen wahrscheinlich nicht überleben.

Inzwischen hat sich die Arbeit von Placet bei den Hilfsorganisationen in den Kriegsgebieten herumgesprochen. Die Zahl der Anfragen nimmt ständig zu. Von zehn Fällen, die den Kriterien entsprechen, können die Ärzte in Berlin nur einen behandeln. Aber Frank Peter will Zweigstellen aufbauen. In Nizza gibt es schon eine kleine Dependance.

Unter den bisherigen Patienten von Placet waren mehrere Afghanen, Iraker, Schwarzafrikaner. Und auch Tschetschenen. Zemfira Agaeva war 2004 eine der Geiseln in der Turnhalle von Beslan. Beim Sturm der Polizei kam ihr Sohn ums Leben, sie selbst wurde von Granatsplittern am ganzen Körper verletzt, verlor einen Teil des Unterkiefers. In Berlin wurde ihr ein neuer konstruiert, dafür entnahm Frank Peter ein Stück Beckenknochen. Man braucht Fantasie und Einfallsreichtum, um jeweils eine zufriedenstellende Lösung zu finden, sagt er.

Fahima wird noch einige Wochen in Berlin bleiben. So lange, bis sie ohne Hilfsmittel gehen kann. „Entweder sie lernt es hier oder gar nicht.“ Eine Physiotherapie in ihrem Bergdorf? „Kann man vergessen“, sagt Peter. Wie es mit ihr in der Heimat weitergeht, ist offen. Der Vater hat versprochen, sie wieder in den Kreis der Familie aufzunehmen. Und die Placet-Mitarbeiter hoffen, dass der Aufenthalt in Deutschland ihr einen Vorteil verschafft – sie zu Hause zu etwas Besonderem macht. Der nächste Patient steht schon auf der Warteliste. Ein zwölfjähriger Junge aus Tschetschenien. Bei einem Terroranschlag verlor er sein linkes Ohr. Frank Peter möchte es wiederherstellen. Aus Rippenknorpel.

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