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Gesundheit: Dieskaus Pflicht

Der Liedinterpret der Superlative bringt Studenten bei, warum es sich lohnt zu lesen

„Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen / Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“, sagt Mignon in Goethes „Wilhelm Meister“. Aber: „Was heißt denn Pflicht hier genau?“ Der Universitätsdozent – er hat die Frage gestellt – gibt darauf den Studenten aus seiner Kenntnis des Romans kundige Antwort: „Der Begriff ‚Pflicht’ sagt nicht alles, was hier zu sagen wäre; es stellt sich ja heraus, dass Mignon das Kind zweier Geschwister ist, und insofern schwingt hier Scham und Ähnliches noch mit.“

Solche Methodik klingt verdächtig nach Germanistischem Institut. Aber halt: Bei den Studenten handelt es sich keineswegs um angehende Deutschlehrer, sondern um aus der ganzen Republik angereiste junge Sänger, und der fragliche Universitätsdozent ist kein geringerer als Dietrich Fischer-Dieskau, Liedinterpret der Superlative. In seiner Eigenschaft als Professor für Liedkunst an der Berliner Universität der Künste gibt er derzeit eine öffentliche Meisterklasse zum Liedoeuvre von Hugo Wolf; und es ist bei der Besprechung einer Interpretation von Wolfs Vertonung von Goethes Gedicht, dass er nach der Bedeutung von ‚Pflicht’ fragt.

Die Szene ist symptomatisch für Fischer-Dieskaus Vorgehen mit den Studenten. „Irgendeine Vorstellung musst du ja haben bei dem, was du singst“, sagt er einmal, als eine musikalische Phrase nicht gelingen will. Es wird deutlich, dass es einzig der genau verstandene Text ist, der den Sänger den musikalischen Gehalt eines Liedes fassen und überzeugend interpretieren lässt. Freilich, das mag dem spezifischen Charakter von Wolfs Vertonungen geschuldet sein. Sie versuchen die musikalische Exegese jedes noch so kleinen textlichen Details. Aber wenn Fischer-Dieskau so auf dem Philologischen in der Liedinterpretation insistiert, gibt er an seine Studenten auch einen wesentlichen Zug seiner eigenen Sangeskunst weiter. Wie kein anderer heutiger Sänger ist er außerordentlich bewandert in Literatur.

Dabei tritt er nie professoral-distanziert auf: Gibt es etwa eine kleine nervöse Unpässlichkeit eines Studenten (man stelle sich vor, ein gewöhnlicher Germanist müsste sein Referat vor Eintritt zahlendem Publikum halten!) zu Beginn seines Vortrages – dann ist das kein Grund zu Aufregung. Fischer-Dieskau überspielt die Situation geschickt mit einer Anekdote von einem eigenen Liederabend bei den Salzburger Festspielen. Singende Damen erhalten gleich eine Umarmung, und Verbesserungsvorschläge werden zwar unbestechlich präzise und erwartungsgemäß kenntnisreich, aber zugleich so charmant-freundlich vorgetragen, dass man sie sich schon allein aus Verpflichtung ihrem Urheber gegenüber zu Eigen machen müsste.

Fischer-Dieskau geht es aber bei diesem Meisterkurs nicht nur darum, den jungen Künstlern sängerisches Wissen mitzugeben. Ihm geht es auch um Hugo Wolf selber, dem er anlässlich des sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährenden Todestag eine Biographie gewidmet hat. In seiner Heimat Österreich steht Hugo Wolf erst an fünfter Stelle der am häufigsten aufgeführten Liedkomponisten. Das liegt auch an den besonderen Schwierigkeiten, die Wolfs textexegetische Vertonungen mit sich bringen. Deshalb sind Fischer-Dieskaus Interpretationsanleitungen nicht nur für die Studenten, sondern auch für das Publikum ein wichtiger Anker.

Noch am 10. und 11. Januar jeweils um 16 Uhr, Theater- und Probensaal der UdK, Fasanenstraße 1B, Karten 5 Euro (Studenten)/10 Euro. Abschlusskonzert am 12. Januar um 20 Uhr im Kammermusiksaal der Philharmonie

Christian Kässer

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