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Gesundheit: Ein Ozean voller Ideen

Ob Seeigel oder Papageienfisch – Meerestiere inspirieren Bioniker zu neuen technischen Produkten

Für Techniker ist das Meer eine wahre Fundgrube. Und eine, die noch nicht leergefischt ist. „Unter Wasser hinkt die Bionik-Forschung noch hinterher“, sagt Wolfgang Hasenpusch, Chemiker an der Universität Siegen. Der passionierte Taucher prägte den Begriff „maritime Bionik“ und gründete 1999 eine gleichnamige Arbeitsgruppe. Das Team ist klein, aber ambitioniert. Als Honorarprofessor verfügt Hasenpusch, der sein Geld in der Industrie verdient, nicht über einen Etat. Dennoch hat der Forscher beim Patent- und Markenamt bereits eine ganze Reihe von Gebrauchsmustern angemeldet, die das technische Know-how von Meerestieren erschließen.

Beispiel Seeigel: Die Stachelhäuter weiden weiche Algen und Seegrasblätter vom felsigen Untergrund. Das, könnte man meinen, stellt eigentlich keine besonderen Anforderungen an die Qualität ihrer Mundwerkzeuge. Doch bereits dem griechischen Philosophen Aristoteles fiel auf, wie komplex sie aufgebaut sind.

Wegen seiner äußeren Form wird der Kieferapparat der Seeigel als „Laterne des Aristoteles“ bezeichnet. Er besteht aus fünf kreisförmig angeordneten Zähnen, die in starre Führungsschienen eingepasst sind. Ringmuskeln drücken die Zähne durch die runde Kieferöffnung nach außen, wo sie fugenlos ineinander greifen – eine „Pinzette“, die beim Öffnen der Greifer keinen Platz braucht.

Bionik ist mehr als Nachahmung der Natur. „Ich schaue mir die Strukturen an und mache dann etwas anderes daraus“, sagt Hasenpusch. Die Pinzette des Seeigels etwa könnte in einer Zeckenzange oder einen Zigarrenschneider münden. Besonders wertvoll wäre der „konzentrische Greifer“ bei der medizinischen Probennahme. Denn im Gegensatz zu herkömmlichen Geräten bleibt der Platzbedarf beim Öffnen der Zange auf den Querschnitt des Endoskoprohres beschränkt.

Die besten Einfälle kommen dem Forscher beim Tauchen. Wie zum Beispiel schafft es der violette Seeigel, dass er von der Strömung nicht weggerissen wird? Antwort: Mit vielen kleinen Saugfüßchen und einem genialen Stachelprofil. Unter dem Mikroskop wird deutlich, dass der Stachel von feinen Rillen durchzogen ist. Diese brechen die Strömungswellen und verkleinern damit den Wasserwiderstand. Im Experiment variierten die Bioniker Abstand und Form dieser Rillen und entwickelten ein Strömungsprofil, das bei Schornsteinen, Masten oder Pfeilern einsetzbar wäre.

Weitere Beispiele für biologische Tricks: Die 30 Zentimeter langen Stachel von Diademseeigeln, mit denen sie sich tagsüber in Felsspalten verkeilen, erwiesen sich unter dem Rasterelektronenmikroskop als Röhren, die aus Kalziumkarbonat-Schuppen aufgebaut sind. Der Bioniker versucht, diesen Strukturen neue Funktionen abzuringen: schallgedämpfte Auspuffanlagen oder Systemfilter, die Grob- und Feinfiltration in einem Handstreich erledigen.

Auch der Tauchsport profitiert von der maritimen Flora. „Wenn man lange und tief taucht, wird man manchmal ein bisschen verwirrt“, sagt Hasenpusch. Am Ankerplatz fällt es dann oft schwer, die Bojenleine zu finden, die zum Tauchboot führt. Markierte Leinen, die mit Hilfe von Auftriebskörpern senkrecht im Wasser stehen, würden die Orientierung erleichtern. Die Idee stammt aus den Kelbwäldern vor der kalifornischen Pazifikküste. Die manchmal 100 Meter langen Braunalgen bilden zu ihrer Stabilisierung bis zu 20 Zentimeter große, mit Kohlenmonoxid gefüllte Schwimmkugeln aus. Daher der Name Blasentang.

Wenn man die Leine dann noch schwarz-weiß anmalt, ist die bionische Superboje perfekt. Ein ähnliches Outfit dient dem harmlosen Ringel-Schlangenaal als Schutz vor Fressfeinden. Denn damit sieht er der extrem giftigen Gelblippen-Seeschlange täuschend ähnlich. Selbst Haie machen um beide Tiere einen großen Bogen. Entsprechend gemusterte Bojenleinen an den Sicherheitsnetzen von Badestränden würden vermutlich Schwimmer und Surfer vor Haien schützen. Auch Delfine und Großfische könnte man mit ihrer Hilfe von gefährlichen Netzen fernhalten.

Oder: „Haben Sie schon einmal einem Papageienfisch beim Fressen zugehört?“, fragt Tauchlehrer Hasenpusch. „Da tun ihnen die Zähne weh.“ Erst im Labor geben die Zähne ihr Geheimnis preis. Mit einem Kristall-Spektrometer fanden die Bioniker heraus, dass die Härte der Papageienfischzähne möglicherweise noch über der von reinem Fluorapatit liegt. „Damit sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen können.“ Um Korallenskelette ohne große Abnutzung aufzubrechen, entwarf die Evolution versetzte Zahnreihen mit abgerundeten Kauflächen. Hasenpusch griff diese Idee auf und entwickelte eine Zerkleinerungstechnik, die auf Mahlwalzen mit Halbkugelkalotten basiert. Mit ihr ließen sich harte, spröde Materialien wie Keramik, Glas oder tiefgekühlter Kunststoff besser aufarbeiten.

Ein Projekt liegt Wolfgang Hasenpusch und seinen Kollegen aber besonders am Herzen: Die solare Entsalzungshaube. Das Verfahren zur kostenlosen Salzwasserdestillation nutzt den Treibhauseffekt unter einer schwimmenden Kunststoffkuppel.

Im Zentrum der Anlage sorgt ein saugfähiges schwarzes Vlies für die nötige Verdunstungstemperatur. Der Wasserdampf steigt auf, kondensiert an der Kuppel und läuft in eine Auffangrinne. Von dort lässt sich das Trinkwasser mit einem Schlauch absaugen. Abgesehen von der Salzkrustenbildung sei das System weitgehend wartungsfrei, sagt Hasenpusch. Im Gegensatz zu anderen solaren Verfahren komme es ohne elektronische Steuersysteme aus. Ebenso gebe es keine Korrosions- und Ersatzteilprobleme. Die Entsalzungshaube könnte helfen, das Trinkwasserproblem an Salzseen, in Küsten- und Brackwassergebieten zu lindern. Fehlt nur noch ein mutiger Hersteller, der die Konzeption zur Anwendungsreife führt.

Mathias Orgeldinger

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