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Gesundheit: „Es sind auch bei uns Brennpunkte entstanden“

Jugend-Revolten in Deutschland? Nicht in der näheren Zukunft, sagt Migrationsforscher Klaus J. Bade

Herr Bade, gibt es historische Vorläufer der Unruhen in Frankreich?

Es gab schwere Unruhen gerade auch in Paris, die aber keine Vorläufer sind, sondern ganz andere Ursachen hatten: die im Oktober 1961 niedergeschlagene Demonstration im Algerienkrieg mit ungefähr 200 toten Algeriern in Paris und die großen Studentenunruhen vom Mai 1968, die im Gegensatz zu Deutschland auf die Gesellschaft übergriffen. Es gibt aber eine lange direkte Vorgeschichte der aktuellen Unruhen. Seit mehr als zehn Jahren brodelt es in Frankreich. Allein von Januar bis September 2005, also vor dem eigentlichen Ausbruch der Unruhen, sind fast 30000 Autos abgefackelt oder anderweitig zerstört worden, darunter 9000 Polizeiwagen.

Rechnen Sie mit solchen Unruhen auch in Deutschland?

Nicht in dieser Form, nicht in dieser Breite und nicht in der näheren Zukunft. Die Ursachen in Frankreich sind ganz andere: Man hat in den 60er/70er Jahren vor die großen Städte buchstäblich Ghettos für Arme, Gastarbeiter und Zuwanderer aus den Kolonien gebaut. Es gibt dort heute mehr oder minder geschlossene ethno-kulturelle und religiöse Strukturen. Die deutschen Zuwandererviertel dagegen sind multiethnisch, multireligiös und schlicht durch Zuzug (und Wegzug von Deutschen) vergleichsweise ,harmonisch’ gewachsen. Aber es sind auch bei uns Brennpunkte dort entstanden, wo ethnische und soziale Probleme aufeinander treffen. Es gibt keinen Anlass, sich in Deutschland in Sachen Integration auf den mit dem Zuwanderungsgesetz – ein Vierteljahrhundert zu spät – erreichten Lorbeeren auszuruhen.

Ist die Integration von Migranten in Deutschland gescheitert?

Ganz sicher nicht. Es muss berücksichtigt werden, welche Leute wir seinerzeit geholt und wie wir sie im Integrationsprozess behandelt haben. Wir haben seit Mitte der 50er Jahre gezielt ungelernte und angelernte Arbeitskräfte angeworben. Als deren Arbeitsplätze modernisierungsbedingt entfielen, waren die Arbeitsaufenthalte bereits in Daueraufenthalte übergegangen. In dieser Situation, in den 70er Jahren, hätten wir nachdrückliche Angebote im Sinne des heutigen Systems von ,Fordern und Fördern’ machen sollen, um eine Nachqualifikation dieser Leute zu ermöglichen und zu verlangen. Wir haben das nicht getan, auch Integrationspolitik ist ausgeblieben. Alles das ist der Hintergrund dafür, dass heute der Abstand in Bildung und beruflicher Qualifikation auch zwischen der zweiten und dritten Generation der Zuwandererbevölkerung und der Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshintergrund noch relativ groß ist.

Was ist erfolgreiche Integration?

Eine möglichst gleichberechtigte Teilhabe an wichtigen gesellschaftlichen Bereichen. Das fängt an bei der Voraussetzung dazu – das ist die Sprache. Das geht weiter über die Teilhabe am Arbeitsmarkt, am Rechtssystem, an Bildung und Ausbildung, an der Politik bis hin zur nachbarschaftlichen Kommunikation. Wir stellen aber auch fest, dass es viele Deutsche gibt – ob nun mit oder ohne Migrationshintergrund –, die ebenfalls nur mehr bedingt integriert sind. Vergleichen Sie doch einen Deutsch radebrechenden jugendlichen Spätaussiedler, der aus Frust über Heimatverlust und Ausgrenzung gewalttätig geworden ist, mit einem erfolgreichen Ausländer in einem deutschen IT-Betrieb, der kein Deutsch versteht, sich mit seinen Nachbarn aber Englisch unterhält und sich über BBC auch über die Lage in Deutschland informiert. Wer ist da mehr und wer weniger integriert? Man muss sehr genau hingucken.

Kann historische Migrationsforschung bei der Lösung der aktuell auftauchenden Probleme helfen?

Nicht durch historische Antworten auf aktuelle Fragen, aber durch den Verweis auf historische Grunderfahrungen mit Zuwanderung und Integration: Dazu gehört, Integration als lebenslanges Projekt wahrzunehmen. Häufig wird sogar die Lebenszeit überschritten – das bekommt dann eine intergenerative Dimension. Deswegen reden wir von Einwanderern der ersten, zweiten und dritten Generation. Dann ist Einwanderung immer auch ein Kultur- und Sozialprozess, der beide Seiten verändert: die Mehrheitsgesellschaft wie die Zuwandererbevölkerung, von der natürlich klar die höhere Anpassungsleistung einzufordern ist, für die man aber auch verständliche Leitorientierungen formulieren muss, trotz aller bekannten Probleme der Deutschen mit ihrer Selbstbeschreibung. Es geht darum, die Integrationsbereitschaft der Zuwandererbevölkerung einzufordern, sich aber auch selber einzuüben in den Umgang mit kultureller Vielfalt.

Von welchem historischen Beispiel können die Deutschen lernen?

Die Angst vor den Parallelgesellschaften, hinter der die Angst vor dauerhafter Nicht-Integrierbarkeit steht, ist nicht neu. Nehmen Sie die Amerikaner des ,deutschen Mittelwestens’ im 19. Jahrhundert: Die haben sich mächtig über die Deutschen aufgeregt, die immer in ,ihre’ Distrikte einwanderten, sich scheinbar nicht integrieren konnten oder wollten, die in der dritten Generation immer noch Deutsch sprachen und womöglich sogar noch katholisch waren! Die Distanz zwischen den ,white anglo-saxon protestants’ in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts und den deutschen Katholiken war größer als die Distanz zwischen europäischen Christen und Muslimen heute.

Für 2010 werden weltweit allein 50 Millionen Umweltflüchtlinge vorausgesagt, kürzlich versuchten hunderte Flüchtlinge über Marokko nach Europa zu gelangen: Was ist von der ,Festung Europa’ zu halten?

Sie ist keine Lösung. Es kann zwar nicht angehen, dass Grenzen illegal überschritten werden und wir das durch Aufenthaltspapiere honorieren. Aber wir wissen, dass viele der Menschen, die jetzt kommen wollen, nicht auf Dauer bleiben wollen. Umgekehrt gibt es in Europa einen starken Bedarf an billigen Arbeitskräften auf Zeit. Das gilt für spanische Obstplantagen ebenso wie für deutsche Reinigungsdienste. Wenn es diesen Bedarf in Europa gibt und wir ihn nicht durch Reformen am Arbeitsmarkt befriedigen können oder wollen, warum regeln wir dann solche temporären Zuwanderungen nicht lieber verbindlich?

Sie haben an der Kölner Migrationsausstellung mitgearbeitet und die neue Zuwanderungsausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin beraten. Braucht Deutschland ein Migrationsmuseum?

Ja. Migration ist ein Grundelement der ,Conditio humana’, der menschlichen Existenz. Der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet. Auch Europa hat verschiedene Formen von Wanderungen und Integrationserfahrungen in der Geschichte erlebt. Es wäre wichtig, diese Erfahrungen dauerhaft zu vergegenwärtigen, nicht nur auf Zeit in Ausstellungen zu beleuchten. Eine dauerhafte Präsentation würde die Migrations- und Integrationsgeschichte selbstverständlicher machen und ihren Eingang in das allgemeine Bewusstsein erleichtern. Dann würde Migration als das behandelt werden, was sie ist: der Normalfall.

Die Fragen stellte Elke Kimmel.

Ausstellung „Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005“ und „Die Hugenotten“ im Deutschen Historischen Museum, bis 12. Februar. Ausstellung „Projekt Migration“ im Kölnischen Kunstverein, bis zum 15. Januar.

Klaus J. Bade (51)

ist Professor für Neueste Geschichte und Vorstand des interdisziplinären Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.

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