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Gesundheit: Explosion des Lebens

Evolution als Baukasten: Wie Forscher versuchen, das Erscheinen der Tiere vor 500 Millionen Jahren zu erklären

In der Biologie werden die Fronten der Forschung oft in Wildwestmanier vorangetrieben. Neben sicheren Wagenburgen des Wissens gibt es unerforschtes Terrain. Zu einem abenteuerlichen Ausflug in solche Regionen haben sich jetzt die beiden amerikanischen Forscher Eric Davidson und Doug Erwin vorgewagt. Sie wollen ein großes Problem der Evolutionstheorie Charles Darwins lösen.

Obgleich der britische Naturforscher vor rund 150 Jahren mit seiner Theorie erklären konnte, wie sich Arten allmählich wandeln, widersprechen ihm seit langem Beobachtungen aus der Entwicklungsgeschichte der Lebens, der Paläontologie. Sie legen nahe, dass im Verlauf der Erdgeschichte neue Tierformen meist plötzlich und unvermittelt aus dem Nichts kommend auftauchen und eben nicht allmählich entstanden sind. Paläontologen, die die versteinerten Überreste früherer Lebewesen erforschen, vermuten daher sprunghafte Ereignisse und noch unerkannte Mechanismen der Evolution am Werk.

Als das größte Rätsel gilt ihnen das unvermittelte Erscheinen der Tierwelt vor 540 Millionen Jahren, die Kambrische Explosion. Nach einer bis dahin weitgehend verborgenen Erdgeschichte ohne Fossilien explodierte das Leben förmlich; neue Baupläne und Tierstämme, ja geradezu innovative Lebensentwürfe tauchten scheinbar aus dem Nichts auf.

In einem vergleichsweise schmalen Zeitfenster von nur 10 bis 25 Millionen Jahren erschienen wichtige Tiergruppen, darunter Tintenfische und Schnecken, gegliederte Würmer und Krebse, Spinnenverwandte und Stachelhäuter. Sogar die ersten Vorfahren der späteren Wirbeltiere traten auf, zu denen sich erst Hunderte Millionen Jahre später auch jene evolutionäre Eintagsfliege gesellen wird, die Homo sapiens, der Mensch, verkörpert. Evolutionsbiologen erscheint die kambrische Explosion als der größte Durchbruch zu einem völlig neuen Evolutionsniveau, als der wohl gewaltigste Sprung, zu dem die Natur je ansetzte.

Mit einer bestechenden, wenngleich spekulativen These haben sich jetzt der Entwicklungsgenetiker Eric Davidson vom California Institute of Technology in Pasadena und der Paläontologe Douglas Erwin vom National Museum of Natural History der Smithsonian Institution in Washington an eine Erklärung gewagt. Besonderheiten der Architektur von genetischen Netzwerken seien für den ungleichmäßigen Evolutionsverlauf verantwortlich, schreiben sie im Fachblatt „Science“.

Im Fachjargon als Gen-regulierende Netzwerke oder kurz GRNs bezeichnet, steuern diese Netzwerke sämtliche Entwicklungsvorgänge. Die beiden Forscher glauben damit dem Rätsel auf der Spur zu sein, wie die ersten Baupläne entstanden und warum im Verlauf der Evolution nicht kontinuierlich neue Tierstämme dazugekommen sind. Sie nutzen dabei die jüngsten Befunde einer noch recht neuen Forschungsrichtung, der evolutionären Entwicklungsbiologie („Evo-Devo“).

Das Credo von Evo-Devo ist, dass sämtliche evolutionären Verwandlungen über Entwicklungsprozesse gesteuert werden. Da diese wiederum unter genetischer Kontrolle stehen, hängt unser Verständnis der Evolution – und damit eben auch der Vorgänge während der „kambrischen Explosion“ – von den jüngsten Einblicken der Entwicklungsbiologen ab.

Vor allem Davidson hat mit seiner Arbeitsgruppe in den letzten Jahren wesentliche Befunde zur Wirkungsweise von Genen im Kernbereich solcher Netzwerke etwa bei Taufliegen und Wirbeltieren beigesteuert. Viele Entwicklungsbiologen meinen, dass solche genetischen Netzwerke einen Meilenstein im Verständnis von Evolutionsvorgängen darstellen und damit eben auch für die Ursache für neue Baupläne am Beginn des Kambriums sein könnten.

Davidson und Erwin setzen an zwei zentralen Beobachtungen an. Zum einen werden sämtliche Baupläne und somit die Entwicklung aller Lebewesen durch regulatorische Netzwerke gesteuert. Zum anderen bestehen diese Schaltkreise im Erbgut aus einzelnen Komponenten, die sich unterschiedlich schnell und auf verschiedenen Wegen entwickelt haben.

Wichtige Elemente der genetischen Regelkreise finden sich bei verschiedenen Tiergruppen in ähnlicher Form wieder, etwa bei Stachelhäutern (wie Seesternen und Seeigeln), bei der Taufliege Drosophila und beim Menschen; wie die Natur sich bei entwicklungsgenetischen Vorgängen überhaupt gern des Baukastenprinzips bedient. So ist für den Fortgang der Evolution nicht zwangsläufig immer neue „Hardware“ nötig gewesen; vielmehr liefen entscheidende Evolutionsvorgänge offenbar über die Verbesserung der genetischen „Software“.

Da die Steuerungs-Netzwerke hierarchisch organisiert sind, haben genetische Veränderungen unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem welche Teile der genetischen Netzwerke betroffen sind. Mutationen in den Kernbereichen der GRNs sollten das tierische Grunddesign weitaus massiver beeinflussen als etwa Veränderungen am Rand. Weil die Genbatterien und Schaltkreise im Zentrum über Rückkopplungen vielfältige Auswirkungen auf die Entwicklungsvorgänge im Organismus haben, wurden die bei den ursprünglichsten Tierformen angelegten Grundverdrahtungen weitgehend beibehalten. Tatsächlich verändern sich die meisten Einzelkomponenten solcher genetischen Schaltkreise kaum.

Die gleichsam im Inneren solcher Regelkreise liegenden Regulationsgene und genetischen Informationen beeinflussen die nachgeordneten Entwicklungsvorgänge, die den Embryo formen. Dieser Verdrahtung verdanken die tierischen Baupläne und die mithin fundamental verschiedenen Tierstämme ihr Dasein, lautet die These. Einmal angelegt, ließen sie sich kaum noch verändern.

Dagegen haben Veränderungen in den Außenbezirken solcher genetischen Netzwerke ungleich weniger massive Auswirkungen. Da hier viele der Rückkopplungen fehlen, die die Funktion von Genkomplexen und genetische Steuerungen in den Kernbereichen beeinträchtigen, stellen sie das andere Extrem dar; hier ziehen Mutationen nunmehr vergleichsweise nebensächliche Veränderungen in der Gestalt des Lebewesens nach sich. Solche Veränderungen betreffen die vielen Variationen der Tierwelt auf dem Niveau unterschiedlicher Arten, Artengruppen oder gar Familien, wo sich bis heute die abermillionenfache Vielfalt des Lebens abspielt, nicht aber eben ganzer Tierstämme, von denen es vergleichsweise wenige Grundmuster gibt.

Sollte sich ihre Hypothese als stichhaltig erweisen, wäre es Davidson und Erwin gelungen, einen Weg zu den bislang wenig erschlossenen Ursachen der kambrischen Explosion zu weisen. So vermuten sie, dass die Verdrahtung in den Kernzonen der Regulationsnetzwerke bereits recht frühzeitig während der tierischen Evolution zustande gekommen sein dürften, etwa vor 630 bis 530 Millionen Jahren. Nachdem die Grundzüge der genetischen Steuerung vor Beginn des Kambriums etabliert waren, haben sich diese in den damals entfaltenden Tierstämmen erhalten.

Einmal festgelegt, steuern die genetischen Schaltkreise deshalb die Entwicklung bei sämtlichen noch heute lebenden Tierformen auf immer gleiche Weise. Allzu große Veränderungen in den genetischen Kernzonen dürften demnach jeweils katastrophale Auswirkungen gehabt haben, so dass die Evolution zunehmend kanalisiert wurde. Nachdem die neuen Schaltmuster mit im Kernbereich mehr oder weniger festgefügten genetischen Verdrahtungen entworfen waren, konnten weitere Tierstämme seit dem Kambrium nicht mehr hinzukommen, weil grundsätzliche Veränderungen zugleich tödliche Folgen für die sich entwickelnden Organismen hatten.

Der Evolution blieben gewissermaßen nur die Komponenten in den Randregionen der genetischen Netzwerke, um Modifikationen auf dem Niveau der Tierarten hervorzubringen. Nachdem im Kambrium die Grundmotive der Symphonie des Lebens einmal komponiert waren, blieb der Rest Variation dieser Themen.

Matthias Glaubrecht

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