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Gesundheit: Fantasiereise in die Vergangenheit

Das Erzählen markanter Geschichten aus dem eigenen Leben tut vor allem Hochbetagten gut. Moderierte Gruppen zur Biografiearbeit bieten sich auch für Menschen mit Demenz an.

Zu einer guten Geschichte gehört ein markanter Einstieg. Keine weiß das besser als Katrin Rohnstock: Die Inhaberin der Firma „Rohnstock Biografien“ hat schließlich zusammen mit ihren Mitarbeitern Hunderten von Lebensgeschichten zur Buchform verholfen, und sie hat die Institution des „Erzähl-Salons“ kreiert: Bis zu zwölf Menschen versammeln sich dafür rund um einen großen Tisch, um sich gegenseitig ihre Erlebnisse zu einem vorher verabredeten Thema zu erzählen.

Den Anfang der Geschichte vom Erzähl-Salon für Menschen mit Demenz schildert die studierte Germanistin so: Während eines Krankenhaus-Aufenthalts teilte sie das Zimmer mit einer alten, leicht dementen Mitpatientin. Ihre Bettnachbarin blühte auf, sobald Rohnstock sich nach deren Leben erkundigte. Sie begann förmlich zu sprudeln, als es um die Frage ging, wie sie denn damals, vor langer Zeit, ihren Mann kennengelernt habe. „Es war, als ob ein Schalter umgelegt worden sei, die Stimmung der alten Dame hat sich schlagartig aufgehellt“, erzählt Rohnstock heute.

Auch bei ihr selbst machte es Klick. Und damit beginnt der Hauptteil der Geschichte: Es entstand nämlich die Idee, auch mit alten, leicht dementen Menschen moderierte Erzählrunden zu veranstalten. Die Erkrankung sollte dafür kein Hinderungsgrund sein, jedenfalls solange sie die Fähigkeit des sprachlichen Ausdrucks nicht stark beeinträchtigte. Zwischen September 2011 und Februar 2013 wurde die Idee auf der geriatrischen Station der heutigen Klinik für Innere Medizin des Vivantes-Klinikums am Friedrichshain-Prenzlauer Berg erstmals in die Tat umgesetzt. Einmal in der Woche traf man sich für eineinhalb Stunden.

Die Psychologin Stefanie Roessler, die damals die Runden zusammen mit einer in Rohnstocks Firma geschulten Moderatorin leitete, erinnert sich gern an die besondere Atmosphäre, zu der auch eine musikalische Umrahmung beitrug. Allein das Wort Salon habe das Festliche der Situation herausgestrichen, einige Damen hätten sich dafür besonders adrett angezogen, so berichtet sie.

Der Begriff „Salon“ erinnert ja auch an glanzvolle gesellschaftliche Events, zu denen sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Geistesgrößen in den Häusern gebildeter Damen versammelten. Kaum vorstellbar, dass das Konzept auf ein modernes Krankenhaus oder Altenheim übertragbar sein könnte. Rohnstock betont jedoch, am Format ihrer Erzähl-Salons habe sie nichts ändern müssen. Allenfalls sei mehr Hilfe nötig, wenn einer der Senioren den roten Faden verliert oder sich tief in negative Emotionen verstrickt, die durch die alten Geschichten wachgerufen werden können. Die Grundthemen, die sich in anderen Konstellationen am großen Tisch bewährten, hätten aber auch die Senioren ins Erzählen gebracht, deren Kurzzeitgedächtnis unter der Demenz gelitten habe. „Das Erzählen ist ja auch viel, viel älter als alle Therapien.“

Beliebt seien Geschichten vom „ersten Mal“, ob es sich nun um den ersten Schultag, den ersten Kuss oder die erste eigene Wohnung handelt. Aber auch die Erinnerungen an große Vorbilder, an festliche Rituale wie Weihnachten zu Hause oder daran, wie man eine Niederlage meisterte, animieren zum Erzählen.

Eine Wunderwaffe gegen die bisher unheilbare hirnorganische Krankheit Alzheimer ist ein solcher Austausch ganz sicher nicht. „Doch Erzählen ist an sich wertvoll, das erfährt man unmittelbar in der Arbeit mit alten Patienten“, urteilt die Psychologin. Es helfe gegen Vereinsamung, es unterstütze bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben, die uns das Leben nicht nur in Kindheit und Jugend, sondern auch im Alter stellt. „Und es ist gut vorstellbar, dass es auch positive Auswirkungen auf kognitive Prozesse im engeren Sinn hat.“

Auch im Alter sei es aber nicht jedermanns Sache, vor einer Gruppe zu sprechen. „Viele schätzen den intimeren Rahmen des Zweiergesprächs, vor allem, wenn es um traumatische Erlebnisse geht.“ Andere brauchen diesen Rahmen schon deshalb, weil sie Schwierigkeiten mit dem Zuhören haben oder schnell unruhig werden. Wieder andere können sich eher im informellen Rahmen einer Mal- oder Bastelgruppe öffnen. Die Psychologin kann sich trotzdem gut vorstellen, dass moderierte Erzählgruppen in Seniorenheimen, Tagesstätten, Nachbarschaftszentren und auch Mehrgenerationshäusern eine große Zukunft haben.

Wissenschaftliche Studien dazu fehlen allerdings noch. Immerhin wurde im Rahmen des „Leuchtturmprojekts Demenz“ vom Bundesgesundheitsministerium zwischen 2008 und 2010 die Studie namens KORDIAL (für: Kognitiv-verhaltenstherapeutische, ressourcenorientierte Therapie früher Demenzen im Alltag) finanziert. Unter Leitung des Psychiaters und Alzheimer-Spezialisten Alexander Kurz von der TU München testeten an verschiedenen Orten Mediziner und Psychologen ein zwölf Wochen umfassendes Programm streng wissenschaftlich, zu dem auch „Biografiearbeit“ gehörte: Psychotherapeuten ermunterten hier leicht demente Patienten zu „angeleiteten Fantasiereisen“ in die eigene Vergangenheit. Sie sollten sich dabei vor allem an freudvolle Lebensereignisse erinnern und davon erzählen, gern auch mithilfe von Fotos und anderen Erinnerungsstücken.

Zwar ließ sich in der Studie nicht herausfinden, ob und wie das zusammenhängende Sprechen über das eigene Leben tatsächlich das Denken und das Gedächtnis verbessert. Doch die Patienten selbst empfanden die Biografiearbeit als hilfreich, aufmunternd, anregend und stimmungsaufhellend.

Ihre Angehörigen und die Therapeuten stimmten dem zu, auch wenn ihr Urteil etwas verhaltener ausfiel. Dass größere Erzählrunden diesem in Ansätzen schon geprüften Konzept der individuellen Biografiearbeit etwas hinzufügen, kann man zwar vermuten. Es ist aber noch nicht wissenschaftlich belegt.

Die Geschichte vom Erzähl-Salon für alte Menschen mit Demenz hat in dieser Hinsicht also bisher ein offenes Ende. Doch die Fortsetzung könnte folgen.

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