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Gesundheit: Gedächtnisforschung: Parfüm fürs Gehirn

Im Alter von neun Jahren wird H. M.

Im Alter von neun Jahren wird H. M., der berühmteste Fall in der Geschichte der Gedächtnisforschung, von einem Fahrrad umgestoßen. Aufgrund der Kopfverletzung bekommt der Junge epileptische Anfälle, die im Lauf seines Lebens immer schlimmer werden. Mit 27 hat sich sein Zustand derart dramatisiert, dass dem Neurochirurgen William Scoville nur noch ein Mittel einfällt: eine Hirnoperation.

Scoville entfernt einen großen Teil des Schläfenlappens, und zwar in beiden Hirnhälften. Der Eingriff lindert tatsächlich die Anfälle. "Doch er erlitt einen verheerenden Gedächtnisverlust, von dem er sich bis heute nicht erholt hat", berichtet der Gedächtnisforscher und Nobelpreisträger Eric Kandel von der Columbia-Universität in New York. "Seit dem Eingriff ist H. M. nicht mehr in der Lage, sich etwas länger als ein paar Minuten zu merken." Nur an Ereignisse vor der Operation kann er sich noch erinnern. Mit dem Schläfenlappen-Teil hatte Scoville kurzerhand H. M. die Fähigkeit zur Bildung neuer Gedächtnisinhalte genommen.

Zahlreiche Studien haben seither die entscheidende Rolle des Schläfenlappens für das Gedächtnis untermauert. Eine jetzt im Fachblatt "Science" (Band 291, Seite 661) erschienene Untersuchung eines japanischen Forscherteams geht weit über eine bloße Bestätigung hinaus: Sie gibt Aufschluss darüber, wie das Gehirn Erfahrungen speichert. Wie es dazu kommt, dass wir, wenn wir uns an etwas erinnern, diese Erinnerung auch "erleben".

Die japanische Gruppe ist unter Neurowissenschaftlern ein Phänomen. Auf Tagungen erscheint sie gern im Dutzend. Leiter des Teams ist Yasushi Miyashita, der schon mal einen seiner Doktoranden instruiert, sich während seines Vortrags neben den Overhead-Projektor zu knien, um seine Folien aufzulegen.

Miyashita und seine Kollegen untersuchen das Hirn des in Japan heimischen Makaken Macaca fuscata, einer Meerkatzen-Art. Dabei soll der Affe zunächst "Paar-Assoziationen" lernen. Das ist im Grunde nichts anderes als das Büffeln von Vokabeln, nur dass die Vokabeln Figuren sind - ähnlich wie das Studium griechischer Buchstaben. Der Makake lernt, dass ein Muster wie ein Dreieck zu einer anderen Figur gehören soll, etwa einem Stern.

"Vor kurzem konnten wir feststellen, dass es in einer bestimmten Region des Schläfenlappens, dem perirhinalen Cortex, besonders viele Gedächtniszellen gibt", berichten die Forscher. Außerdem zeigte sich während des Lernens in diesem Hirnteil eine Zunahme von Neurotrophin. Diese Substanz regt Nerven zum Wachstum an - ein Hinweis darauf, dass hier Gedächtnis buchstäblich gebildet wird. Bei H. M. hatte Chirurg Scoville unter anderem eben diesen perirhinalen Cortex enfernt.

Mit hauchdünnen Elektroden haben die japanischen Wissenschaftler die Aktitivät von über 500 einzelnen Zellen des Makakenhirns gemessen. Nachdem der Affe die "optischen Vokabeln" gelernt hatte, zeigten sie ihm einen Stern. Daraufhin fingen in seinem Hirn einige Zellen an zu "feuern", und zwar zunächst in einem Areal namens TE, das direkt neben dem perirhinalen Cortex liegt. Diese Hirnzellen übernehmen die Wahrnehmung komplexer Muster: Durch sie erleben wir den Stern als ganzes Objekt - nicht nur als eine Ansammlung von Strichen. Patienten, bei denen dieser Hirnbereich beschädigt ist, könnten beispielsweise die einzelnen Spitzen eines Sterns noch abzählen, aber den Stern als solches nicht mehr erkennen.

Der Stern jedoch stimulierte nicht nur Zellen im TE-Areal. Mit etwas Zeitverzögerung feuerten auch die "Stern-Zellen" im perirhinalen Cortex. Und dann zeigte sich etwas Bemerkenswertes. Wie ein Parfüm die Erinnerung an eine bestimmte Person hervorrufen kann, so holte der Stern die Assoziation "Stern-Dreieck" aus dem Gedächtnis hervor: Kurz nach dem Feuern der Stern-Zellen im perirhinalen Cortex, wurden dort auch Neuronen aktiv, die normalerweise auf Dreiecke ansprechen.

Aber das war noch nicht alles. Nach einer weiteren Zeitverzögerung regten sich nach und nach auch im TE-Areal Zellen, die sonst nur feuern, wenn sie Dreiecke tatsächlich sehen. Erst durch diese Aktivität, so vermuten die Forscher, wird das Dreieck als ganzes Objekt "visuell erlebt". Auch H. M. konnte, obwohl er sein Gedächtnis verloren hatte, die Welt noch normal wahrnehmen.

"Diese Ergebnisse sind ebenso beeindruckend wie das Team", kommentiert Christian Keysers, Hirnforscher an der Universität Parma. "Sie zeigen, dass es tatsächlich Nervenzellen gibt, die für eine Assoziation zuständig sind. Außerdem gibt es Zellen, die für das holistische Erleben dieser Erinnerung sorgen. Die Nervenzellen im perirhinalen Cortex sind wahrscheinlich in der Lage, visuelle Areale in den Zustand zurückzuversetzen, in dem sich unser Hirn befindet, wenn es die Assoziation wirklich sieht."

Dennoch empfinden wir eine Erinnerung ganz anders als eine direkte Wahrnehmung. Wenn im Hirn aber in beiden Fällen das Gleiche passiert, nämlich die Aktivität bestimmter Nervenzellen, wie kommt dann dieser offensichtliche Unterschied zustande?

"Es passiert ja nicht genau das Gleiche", sagt Keysers. "Bei der Erinnerung wird eine kleinere Anzahl von Dreieck-Zellen stimuliert als beim Sehen." Außerdem sei die Aktivität dieser Zellen geringer. Und schließlich würden bei der Erinnerung weniger visuelle Hirnareale angeregt. "Wahrnehmung und Erinnerung unterscheiden sich tatsächlich sowohl auf der Zellebene als auch subjektiv", sagt Keysers. "Ein weiteres Beispiel dafür, dass eine Veränderung im Geist eine Veränderung im Hirn ist."

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