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Gesundheit: Gemeinsam gegen einsam

In Selbsthilfegruppen lernen Depressive, Angst und Isolation zu überwinden

Nicht selten beginnt die Depression plötzlich. Aus heiterem Himmel. Hoffnungslosigkeit, innere Leere, Angst und Verzweiflung oder das Gefühl, versteinert zu sein, ergreifen Besitz. Manchmal saugt die Depression auch nur ganz allmählich die Lebensenergie ab. Immer aber ziehen sich Depressive aus dem Leben zurück, flüchten in die Isolation. Umso erstaunlicher, dass auch Menschen mit einer Melancholie von der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe profitieren. Hier können sie lernen, ihre Verkapselung aufzubrechen.

„In der Selbsthilfegruppe hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass jemand mich versteht.“ „Wenn ich wieder mal durchhänge, kann ich jederzeit einen aus der Gruppe anrufen.“ „Mir hat es sehr geholfen, dass in der Selbsthilfegruppe nicht alles um einen selbst kreist.“ Das sind drei Statements von Menschen, die unter einer Depression oder einer Angststörung leiden oder litten und sich regelmäßig mit anderen Betroffenen austauschen. Um für Überblick zu sorgen und die Gruppen mit Informationen zu unterstützen, wurde jetzt ein „Selbsthilfenetzwerk Depression und Ängste Berlin-Brandenburg“ aus der Taufe gehoben.

Dass man sich einer Selbsthilfegruppe anschließt, wenn man eine Krebsbehandlung fürs Erste überstanden hat oder wenn man lernen muss, mit einer chronischen Krankheit zu leben, ist längst normal. Aber bei einer psychischen Krankheit? „Aus ärztlicher Sicht gibt es eigentlich keine Gegengründe", sagte der Berliner Internist Bernhard Palmowski bei einer von der Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle „Sekis“ organisierten Tagung. Im Gegenteil: „Die Gruppen setzen Selbstheilungskräfte frei.“

Wer schwer depressiv sei, schaffe es ohnehin nur schwer, sich einer Gruppe anzuschließen, wurde gleich aus der Runde ergänzt. „Wir sind antriebsgestört, wir fahren sowieso schon mit vier angezogenen Handbremsen“, formulierte ein Betroffener. Meist sei es deshalb überhaupt erst möglich, in einer Gruppe mitzuwirken, wenn eine Behandlung mit Psychopharmaka und Psychotherapie schon angeschlagen hat. Dort steht nicht zuletzt der Austausch von Erfahrungen mit den verschiedenen Therapien auf der Tagesordnung. Die Gruppen sind in dieser Hinsicht Kontaktbörsen, in den Leidensgeschichten der anderen kann man sich wieder erkennen, man fühlt sich weniger isoliert.

Etwa 5000 Selbsthilfegruppen psychisch Erkrankter gibt es in Deutschland. Der Gießener Psychologe Friedhelm Meyer hat in einem Forschungsprojekt Informationen über sie gesammelt. 47 Prozent der Gruppen bestehen schon länger als drei Jahre, 36 Prozent treffen sich jede Woche. Fast 80 Prozent werden von Kontaktstellen beraten, teilweise arbeiten Experten mit ihnen zusammen. Auch die Berliner Gruppen sind beständig, wie man bei „Sekis“ weiß. Oft kennen die Mitglieder sich schon lange. Weil sie nicht alle zugleich in einer schwierigen Phase sind, können Stabilere diejenigen, die sich gerade in einer Krise oder zumindest in einer schwierigen Stimmung befinden, stützen und tragen.

Diese Aufgabe kann jedoch auch zur Überforderung werden, für Einzelne und für die ganze Gruppe. „Ich habe erlebt, dass jemand wochenlang von seinem geplanten Selbstmord sprach“, erzählte ein Tagungsteilnehmer.

Wird den Gruppen manchmal zu viel aufgebürdet? Zumindest aus der Obhut des Krankenhauses werden psychiatrische Patienten bei der heute üblichen kürzeren Verweildauer oft „krank entlassen“, wie die Psychiaterin Miriam Schouler-Ocak sagte, Leiterin des „Berliner Bündnisses gegen Depression“. Wenn sie danach ambulant gut betreut werden, ist diese Entwicklung durchaus erwünscht.

„In den Praxen sind für die ärztliche Versorgung psychisch Kranker nur zweimal im Monat wenige Minuten vorgesehen“, kritisierte jedoch Jutta Crämer vom Landesverband der Angehörigen Psychisch Kranker. Andererseits ist gerade Berlin mit 1427 psychologischen und 648 ärztlichen Psychotherapeuten gut ausgestattet.

Selbsthilfe kann professionelle Hilfe nicht ersetzen. Aber man kann sich gegenseitig im Alltag unterstützen. Teilnehmer erzählten von Bewerbungsbriefen, die Mitglieder einer Gruppe gemeinsam verfassten. „Wir sollten uns keineswegs nur von morgens bis abends erzählen, wie schlecht es uns geht“, forderte Manfred Bieschke-Behm, eine der Kontaktpersonen des neuen Netzwerkes.

In einer Gruppe die Initiative zu ergreifen und Organisationsarbeit zu übernehmen, kann stabilisieren. Doch eine solche Führungsrolle kann auch heikel sein. „Ich möchte meine Funktion ausfüllen. Gleichzeitig möchte ich aber auch meine Probleme in der Gruppe abladen können", beschrieb ein Gruppenleiter das Dilemma.

Adelheid Müller-Lissner

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