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Gesundheit: Gemischter Chor mit neuen Tönen

Das Europäische Forum will die Öffentlichkeit wieder für die Osterweiterung begeistern

Perestroika, samtene Revolutionen, 1989 – war da was? Früh hat sich die Euphorie für die demokratischen Aufbrüche der Osteuropäer gelegt. An ihre Stelle trat jedoch Bewunderung für Dissidenten, die zu Präsidenten, für vermeintliche Ostblockmenschen, die zu selbstbewussten Staatsbürgern wurden. Schnell signalisierte die Europäische Gemeinschaft: Ihr gehört zu uns. Über die Jahre hat sich der rote Faden des Interesses aneinander jedoch abgenutzt. Alarmierend sind Nachrichten aus Polen: Der EU-Beitritt verliert an Akzeptanz. Und im bundesdeutschen Wahlkampf war die Osterweiterung schon gar kein Thema mehr.

Mitten in der Stagnation meldet sich nun ein gemischter mitteleuropäischer Chor mit neuen Tönen der Begeisterung. „Wir wollen intellektuell die Osterweiterung vorwegnehmen“, sagt die Initiatorin des „Europäischen Forums“, Ulrike Ackermann. „Die wirkliche Vernetzung zwischen West- und Osteuropa“, sagt ein Forumsmitglied, der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, „ist viel weiter als die bürokratischen Fantasien.“ Im Forumskomitee demonstrieren auch der polnische Publizist Adam Michnik und der französische Philosoph André Glucksmann ihren Glauben an eine erneuerte europäische Debatte.

Das „Europäische Forum“ ist ein lockeres Bündnis von Wissenschaftlern, Politikern und Schriftstellern aus West- und Ostmitteleuropa. „Freigestellt von den Zwängen der Realpolitik wollen wir einen Raum für Debatten schaffen“, erklärt Ackermann. Die Frankfurter Politologin und Publizistin („Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute“) hat das Forum zusammengebracht und an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt. Am Gendarmenmarkt tragen Akteure und Gäste des Forums auch ihre vierteljährlichen öffentlichen Podien aus. Thema des ersten Treffens am heutigen Mittwoch: „Verzögerte Osterweiterung – brauchen wir eine neue Ostpolitik?“

Bei den bis Juni 2003 geplanten Diskussionen tastet sich das Forum zu in jüngster Zeit aktualisierten Tabu-Themen vor: „Vertreibungen in Europa“ und „Vergangenheitsbewältigung in Frankreich, Deutschland und Polen“. Finanziert wird das Europäische Forum von der Hertie-Stiftung, der Robert-Bosch- und der Volkswagen-Stiftung.

Von den Diskutanten – den Anfang machen der Osnabrücker Migrationshistoriker Klaus Bade, der tschechische Schriftsteller Jiri Grusa, der Pariser Politologe Jacques Rupnik und der polnische Politologe Kazimierz Woycicki – erwartet Ulrike Ackermann viel. „Die Ambivalenzen des europäischen Einigungsprozesses sollen deutlich werden.“ Ein Beispiel: Die Deutschen setzen sich stark für die Aufnahme Polens in der ersten Runde der Osterweiterung ein, wollen den Polen aber die Freizügigkeit verwehren und sie zu „EU-Bürgern zweiter Klasse“ machen. Frankreich blockiert die Aufnahme Polens wegen der Landwirtschafts-Subventionen. Andererseits unterstützten die französischen Intellektuellen Solidarnosc – im Gegensatz zu den deutschen.

Eine neue Ostpolitik, sagt Ulrike Ackermann, müsste beispielsweise die Polen endlich als Mitgestalter einbeziehen. Komiteemitglied Karl Schlögel hält es gar für denkbar, „dass das Werk der jetzt aktiven Politikergeneration von einer künftigen Bundesregierung in Frage gestellt werden könnte – wenn ihr der Wind ins Gesicht weht“. Die Erweiterungs-Rhetorik sei ärgerlich, zumal man schon heute merke: „Das stimmt alles nicht.“ Schlögel wünscht dem Europäischen Forum, es möge zu einer neuen Verhandlungsebene werden. Allerdings warnt der in Ostmitteleuropa weit gereiste Kulturhistoriker davor, ausschließlich Intellektuelle über Europa nachdenken zu lassen. Der Gründer einer Ikea-Filiale in Kasan könne von europäischen Vernetzungen erzählen, von denen man in Parlamenten und Hörsälen noch gar nichts wisse. Amory Burchard

Heute, 19.30 Uhr, im Festsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Eingang Markgrafenstraße 38 (Mitte).

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