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Gesundheit: Gerührt und geschüttelt

Spenden-Shows wecken Mitgefühl mit fernem Leid. Wie authentisch sind diese Emotionen?

Das kleine Mädchen in dem Einspielfilm liegt lächelnd da, kahlköpfig, an eine Batterie von Schläuchen angeschlossen. Es ist neun Jahre alt und sagt: „Wenn ich groß bin, will ich nur eines: gesund sein.“ Julia hat Blutkrebs, Heilungschancen 51 Prozent, sagt der Moderator. Da kullern sie längst über die Gesichter der Zuschauer: die Tränen des Mitgefühls. Sie fließen reichlich bei der Gala von Startenor Carreras, so wie die Spendengelder. Nicht nur hier, auch bei Gottschalks „Ein Herz für Kinder“ werden regelmäßig neue Rekorde des Gebens aufgestellt, obwohl in Deutschland heute weniger gespendet wird als früher. Stars, Musik und Kinderschicksale hautnah – die vorweihnachtlichen Fernsehshows sind Gefühlsbäder, deren Sog man sich kaum entziehen kann.

Wenn die Tränen getrocknet sind, setzt bei manchem Zuschauer vielleicht ein Moment der Ernüchterung ein. Nicht wegen der guten Tat selbst – aber wegen ihrer Zufälligkeit. Vor wenigen Minuten war Julia noch eine Fremde, ihr Schicksal unbekannt, gleichgültig, wie das Tausender anderer, bis der berühmte Operntenor den Scheinwerfer auf sie gerichtet, sie zum Star seiner Inszenierung gemacht hat. Nachdem der Fernseher ausgeschaltet ist, bleibt ein bittersüßer Geschmack von Kitsch. Die Frage ist: Was ist unser Mitgefühl eigentlich wert, wie sehr kann es unser Gefühl sein und welchen moralischen Wert hat es, wenn es von außen erzeugbar ist – durch Bilder, Violinenklänge und stehenden Saalapplaus?

Einer ohne Not sieht das Leid des anderen. Berührt es ihn oder nicht – und warum? Dem Phänomen des Mitleids und seiner seit jeher zwiespältigen Bewertung ist das Potsdamer Einsteinforum jetzt im Rahmen der Tagung „Zivilisationsbruch mit Zuschauer. Gestalten des Mitgefühls“ nachgegangen. Mitgefühl – nicht Mitleid war der Arbeitsbegriff: Als zu negativ galt den Veranstaltern das kulturhistorische und semantische Image des Mitleids. Im Begriff „Mitleid erregend“ schwingt zu oft zugleich Verachtung mit.

Gäbe es diese Konnotation nicht, wäre Mitleid das präzisere Wort für die gesuchte Sache, die im englischen compassion heißt: den (im deutlichsten Fall körperlich) spürbaren Schmerz über das Leid eines anderen und den Wunsch, dieses Leid zu beenden. Das Gefühl, das Leid eines anderen zu fühlen: Es klingt zunächst paradox. Wir täuschen uns oft genug in den Gefühlen anderer, wir haben keine unmittelbare Empfindung von dem, was andere fühlen. Um es mit dem schottischen Moralphilosophen Adam Smith zu sagen: „Obwohl unser Bruder gefoltert wird, werden unsere Sinne, solange es uns selbst wohl ergeht, uns niemals mitteilen, was er leidet.“ Mitleid ist deshalb für Smith nicht das Fühlen des Schmerzes des anderen, sondern eine Art Schauder, verursacht durch unsere Einbildungskraft, den Versuch, uns vorzustellen, selbst ähnliches wie er zu erleiden.

„Ich könnte du sein.“ Dieses Erlebnis ist der Kern des Mitgefühls, und die christlich-jüdische Tradition hat das Urerlebnis eindringlich formuliert „Du sollst ihn (den Fremdling) lieben, er ist wie du“, so steht es in der Thora, denn: „auch ihr wart Fremdlinge im Land Ägypten“.

In ihrem zweiten Lebensjahr entwickeln Kleinkinder die Fähigkeit, an den Emotionen anderer Personen teilzuhaben und sie zu verstehen. Es entsteht die Empathie, wie die Untersuchung von Doris Bischof-Köhler von der Universität München zeigt: In einem Versuch konfrontierte sie Kinder im Alter von 15 bis 24 Monaten mit der Notlage einer Spielpartnerin: Ein Teddybär ging kaputt, ein Löffel brach ab, so dass die Spielpartnerin nicht weiteressen konnte.

Gleichzeitig wurde mit den Kleinkindern das Spiegelexperiment durchgeführt, der „Rougetest“, der dokumentiert, ob sich ein Lebewesen im Spiegel erkennen kann. Das eindeutige Ergebnis: Kinder, die sich noch nicht im Spiegel erkannten, reagierten auf das fremde Leid verwirrt oder unbetroffen, Kinder, die sich bereits im Spiegel erkannten, zeigten empathische Betroffenheit mit ihrer Spielgefährtin. Sie versuchten, etwa mit dem eigenen Teddy als Ersatz oder dem eigenen Löffel, ihr zu helfen. Und wie vom Kummer ihres Gegenüber gefesselt, blieben sie so lange bei der traurigen Spielgefährtin, bis die Situation gelöst war.

Dieses Gefühl, nicht weggehen, nicht wegsehen zu können, kennt auch noch der erwachsene Fernsehzuschauer, dem täglich in den Nachrichten sein „Menü der globalen Grausamkeiten“ (Georg Franck) serviert wird – und der es mit gemischten Gefühlen verspeist.

Furcht und Mitleid sind seit der antiken Tragödie die Hauptzutaten des Unterhaltungsgeschäfts. Als künstlich- künstlerisch erzeugte Nähe, als dramaturgisches Mittel begegnet uns das Mitgefühl, seit es das Theater gibt. Doch das Theater erzählt nur Geschichten. Das Fernsehen bringt uns wirkliches Leid in unsere warmen Stuben.

Unendlich wachsen mit dem Fluss der Informationen auch die Möglichkeiten mitzufühlen. Das 18. Jahrhundert glaubte an die Besserung des Charakters durch Rührung. Mitgefühl sollte sich am besten auf die ganze Menschheit ausdehnen. Potenziell könnten wir tatsächlich mit jedem Menschen, jedem Tier auf diesem Planeten mitfühlen. Tatsächlich tun wir es nur mit wenigen: Zeit, Geld und Aufmerksamkeit sind begrenzt.

Henning Ritter spricht in seinem Buch „Versuch über das Mitleid“ (München 2004) über den Zerfall des Ethos, „in eins für das nahe und eins für das ferne Unglück“. Das muss man nicht unbedingt räumlich verstehen. Was uns nah ist, kann sich heutzutage überall auf dem Planeten abspielen – doch es ist eine Frage der Wahl, der Sympathie. Nur einzelnen Akteuren und Orten im Weltgeschehen können wir uns verbunden fühlen. Unser Mitgefühl ist vor allem subjektiv. Manchmal ist es mit der Moral im Bunde, manchmal nicht. Bambi, ein gezeichnetes Reh, kann uns unendlich rühren, während der Bettler in der U-Bahn uns kalt lässt. Mal helfen wir, mal weinen wir. Aber es sind Tränen, auf die nicht gebaut werden kann. Schon gar nicht eine Ethik, die die ganze Welt umspannt.

Die Freie Universität Berlin veranstaltet vom 13. bis 15. Januar eine Tagung über „Ethik und Ästhetik des Mitleids“. Informationen unter www.fu-berlin.de/zefrauen/

Kirsten Wenzel

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