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Gesundheit: Gesellschaft: Der Bürger im Elternbeirat

In Hamburg haben die Kirchen Katen für Obdachlose eingerichtet und die "Hamburger Tafel" ins Leben gerufen. Dort werden Obdachlose mit Speiseresten aus Restaurants oder mit Nahrungsmitteln versorgt, die in den Supermärkten aussortiert worden sind.

In Hamburg haben die Kirchen Katen für Obdachlose eingerichtet und die "Hamburger Tafel" ins Leben gerufen. Dort werden Obdachlose mit Speiseresten aus Restaurants oder mit Nahrungsmitteln versorgt, die in den Supermärkten aussortiert worden sind. Diese von Bürgern und den Kirchen getragene Initiative ist ein Beispiel für die Zivilgesellschaft - sie hilft den Obdachlosen besser als die Unterbringung in Hochhaussiedlungen ohne jede Betreuung.

Ein anderes Beispiel der funktionierenden Zivilgesellschaft stellen die vielen Initiativen dar, die sich aus der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre entwickelt haben: Was Eltern zur Förderung behinderter Kinder in Hinterzimmern begannen, ist heute in der "Lebenshilfe" aufgegangen, einer Organisation, die mit staatlicher Unterstützung arbeitet. Bürger haben verkehrsberuhigte Zonen erkämpft, Tempo 30 in Wohnvierteln, die Fahrradwege ebenfalls. Trotz dieser Erfolge warnte die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Barbara Stolterfoht, auf einer Tagung über die Zivilgesellschaft im Logenhaus davor, nun Bürgerinitiativen Aufgaben anzuvertrauen, die eigentlich nur der Staat bezahlen kann. Wenn ein Arbeitsplatz in einer Behindertenwerkstatt 60 Mark am Tag kostet, sei die "Lebenshilfe" damit finanziell überfordert.

Stolterfoht pries das bisher Erreichte. Allein der Paritätische Wohlverfahrtsverband habe 10 000 Mitgliedergruppen. In diesen Gruppen stecke "ein beträchtliches Innovationspotenzial, das der Staat nicht hat". Sie böten Hilfe in problematischen Lebenslagen, sorgten für kundengerechte Dienstleistungen und eröffneten Bürgern Chancen zur Lebensbewältigung - sie stiften Gemeinschaften.

Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) nahm das Beispiel der Terroranschläge auf New York und Washington zum Anlass, um herauszustellen, wie viel Mitgefühl und Solidarität in der Zivilgesellschaft zu wecken sind. Heute könne der Staat Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit gar nicht allein bekämpfen, wenn es nicht vielfältige Bürgerinitiativen geben würde, die "dazu beitragen, das Klima in Deutschland positiv zu verändern". Von daher wies die Bundesfamilienministerin jeden Verdacht zurück, dass der Staat die Zivilgesellschaft erst in dem Augenblick entdeckt habe, da er unter enormen Sparzwängen steht.

In diese Richtung argumentierte auch die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis. "Bürgerschaftliches Engagement darf kein Lückenbüßer für den Staat sein." Sie bezeichnete den Vorwurf, der Staat habe nur dann ein Interesse an der Zivilgesellschaft, wenn er seine öffentlichen Haushalte zurückfahre, als "tief sitzendes Vorurteil". Die Ministerpräsidentin warnte die Bürger davor, erst zu warten, bis vom Staat das "ganz große konzeptionelle Rad" gedreht ist, bevor sie selbst aktiv werden. Sie setzte den Appell dagegen: "Wer schnell hilft, hilft doppelt."

Mobilität behindert Nachbarschaftshilfe

Diesen Appell hielt sie deswegen für angebracht, weil sich in der heutigen Gesellschaft zwei Gruppen dem Engagement in der Zivilgesellschaft entzögen: Viele Menschen würden durch häufige Umzüge, Dienstreisen oder Auslandsaufenthalte daran gehindert, sich in ihrer eigentlichen Nachbarschaft einzuleben und zu engagieren - ob im Verein oder dem Elternbeirat in der Schule. Auf der andern Seite stehen Bürger, die nicht mehr zu den Wahlen gehen oder sich nörgelnd durch die Fernsehprogramme zappen. Heide Simonis hielt dagegen: "Wir brauchen aber Menschen, die freiwillig Verantwortung übernehmen für sich selbst, für die eigene Familie und für andere. Ohne dieses Engagement kann unsere Demokratie auf Dauer nicht funktionieren."

Die deutschen Zahlen des Bürgerengagements sind gar nicht so schlecht: Jeder dritte Bundesbürger engagiert sich ehrenamtlich - das sind rund 22 Millionen. 37 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren sind beim Bürgerengagement besonders aktiv - aber nicht in Parteien oder Gewerkschaften, sondern vor allem in Sportvereinen. Neben Sport und Bewegung sind Schule, Kindergarten und Freizeit starke Felder des Engagements der erwachsenen Bürger.

Die Zahl der Selbsthilfegruppen und Initiativen ist von 25 000 im Jahr 1985 auf 60 000 im Jahr 1995 gestiegen. Als Beispiel für die Zivilgesellschaft werden auch die über 8000 Stiftungen gewertet, die es inzwischen in Deutschland gibt. Auch in den neuen Ländern tut sich etwas: In der DDR war bereits ein Treffen von mehreren Eltern mit behinderten Kindern verboten, weil daraus eine Gruppe entstehen konnte. Inzwischen gibt es in den neuen Ländern etwa 80 000 bis 100 000 Vereine.

Uwe Schlicht

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